Hirnflimmern

Wie Schimmelpilz: Apache 207 & Lindenberg = dummes, schwülstiges Pathos


Lohnende Raumfahrt, verschimmelter Deutschpop & stylishe Zwiebeln. Josef Winklers Hirnflimmern-Kolumne.

Ich möchte jetzt hier nicht im Revier der benachbarten Fashion-Kolumne wildern, aber ich muss mal eine Frage loswerden resp. meine langjährige Verwunderung zum Ausdruck bringen über einen Fachbegriff, der in diesen Zeiten des abnehmenden Lichts wieder kursiert: Wenn ich mich im nun wieder propagierten „Zwiebellook“ kleide, wie sieht das dann aus? Ich muss bei dem Wort immer an das alte mallorquinische Chanson „Ich hab ne Zwiebel auf’m Kopf, ich bin ein Döner“ denken; lustige Bilder springen in den Kopf, von stylebewusst dreinblickenden Fashionistas in ridikulösen Ballon-Outfits. Hihi. Hoho.

Hüte zu Discokugeln: Wie Ruslan Baginskiy sowohl Rihanna als auch die Queen beindruckt(e)

Verstehen Sie mich recht: Ich möchte mich nicht mutwillig dumm stellen, aber man kann doch nicht Jahr und Tag ein absurdes Wort wie „Zwiebellook“ in Modeblogs und Werbenachrichten schreiben, ohne mal zu reflektieren, dass das halt bedeutet, dass jemand wie eine Zwiebel aussieht! Verdammt. Und nein, man muss nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen, aber wo ich auch bald einen zu viel krieg, ist, wenn hier in meinem Haushalt der Apache 207 und der Udo Lindenberg noch oft von dem Komet singen, der zweimal einschlägt.

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Die Kinder sind schuld, klar, und ich mühe mich, ihnen klarzumachen, dass „Alles klar auf der Andrea Doria“ der bessere Lindenberg-Song ist. Kinder sind anfällig für dieses schwülstige Pathos, das den deutschen Pop seit langen Jahren durchdringt wie Schimmelpilz (wenn ich noch einem Grundschulabschlussfest beiwohnen muss, bei dem „Ein Hoch auf uns“ abgesungen wird, dann … dann schreie ich!), schlimm genug. Und ich will da jetzt gar nicht tief in die Exegese einsteigen, aber „ich geh (…) wie ein Komet, der zweimal einschlägt“, das ist zwischen Poesie und Physik auf so vielen Ebenen Dummes, ich komm da nicht drüber hinweg. Da kann sich der Apache dann von mir aus auch noch als Zwiebel verkleiden.

„Schießt den Söder auf den Mond / das ist Raumfahrt, die sich lohnt!“

1a Space-Lyrik hingegen: „Schießt den Söder auf den Mond / das ist Raumfahrt, die sich lohnt!“ Und der braucht dann auch nur einmal einzuschlagen, das reicht völlig. Dieses schöne Gedicht habe ich letztens auf einer Fridays-for-Future-Demo gehört, bei der ich auch eine eher irritierende Beobachtung machte: selbstgemachte Schilder, die mit Slogan-Gags arbeiten à la „Der Planet wird noch heißer als Christian Lindner“. Das machte mich stutzig. Ich stutzte zweimal. Wird Christian Lindner von jungen Leuten – und sei es nur ironisch – als „heiß“ wahrgenommen?  Also als – ich wage es kaum hinzuschreiben, weil ich fürchten muss, mir wird die Hand verdorren – sexuell anziehend?

„Ich will Immos, ich will Dollar“: Warum die Gen Z das System durchschaut hat

Oder hat „heiß“ im Jugendsläng eine Bedeutungsverschiebung erfahren und meint heute/momentan etwas anderes in Richtung „verachtenswert“, „panne“ o.Ä.? Na, sehen Sie, das hat jetzt meinen Rage-Mode aktiviert (grad im Internet gelernt, gut wa?), was leider immer passiert, wenn ich länger als 60 Sekunden an Christian Lindner denke. Bevor noch Schlimmes passiert, geh ich eine Runde mitm Hund raus, in meinem heißen Gurkenlook.

Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 11/2023.