Popkolumne, Folge 154

Saufen, Wichsen, Prügeln, Langeweile: So bedrückend gut ist „Nullerjahre“ von Hendrik „Testo“ Bolz


„Nach dem ganzen Speed jetzt noch Crystal?“ Das ist nur eine Frage, die in „Nullerjahre“, dem Autoren-Debüt von Hendrik „Testo“ Bolz gestellt wird. Das Buch der brünetteren Hälfte des Rap-Duos Zugezogen Maskulin findet sich bereits auf der „Spiegel“-Bestsellerliste. Linus Volkmann hat dieser verstörenden Ost-Biographie zwischen Skins und Rap die aktuelle Popwoche (KW 8/2022) gewidmet. Begegnung mit dem Schriftsteller und einem Soundtrack seiner Jugend inklusive.

PROLOG

Persönliche Verstrickungen mit Kunstschaffenden gilt es als Popautor tunlichst zu vermeiden. Andernfalls drohen Interessenskonflikte und Glaubwürdigkeitsdellen. Dementsprechend erschrocken bin ich, als es letztes Jahr bei einer Ausstellung namens „In Brandenburg gibt es einen Mann der seit der Wende wach ist“ in der sogenannten „Frankfurter Hauptschule“ am Osthafen heißt:

„Guck mal, dahinten. Dort hat sich doch tatsächlich einer der beiden Rap-Musiker der Gruppe Zugezogen Maskulin eingefunden.“

Da diese Sichtung im Herzen Hessens stattfindet, klingt es natürlich eher so:

„Ei gugge ma‘, do stehd so‘n Räppa-Dulli aus Berlin.“

Aber tatsächlich, es ist Hendrik Bolz, besser bekannt als Testo, der hier zur After-Hour eines Happenings des Tannhäuser Kreis auftaucht. Was ist hier bloß los?

In einer anderen Ecke der Räumlichkeiten nisten „Die Geilen“, also El Hotzo und sein Podcast-Partner und Next-Level-Meme-Entrepreneur Bong Iver. Die illustren Gäste sehen sich eingewoben von Jody Korbachs und Max Sands Ausstellung. Das Thema lautete – zumindest meiner Erinnerung nach – „1000 Jahre CDU“.

Besoffen von soviel Avantgarde-Glamour zieht es mich dann doch zu dem Rap-Musiker aus Berlin. Was soll schon passieren? Beziehungsweise lautet am nächsten Morgen die Frage eher: Was ist eigentlich passiert? Erinnerung nebelig.

Immerhin finde ich noch ein Selfie mit ihm in meinem Handy – auch schon wieder peinlich. Kann mir denken, dass sicher nicht er darauf insistiert hat. Ach, stimmt und über die Böhsen Onkelz sprachen wir, fällt mir wieder ein, wenn ich drüber nachdenke. Puh. Aber nun gut, denke ich, dehydriert, der Typ begegnet dir so schnell auch nicht wieder. Sei’s drum. Boy, was I wrong…

Aus der Arbeit „1000 Jahre CDU“ von Jody Korbach.

DIE BAND

Eigentlich Teil der Rapcrew Zugezogen Maskulin, jetzt auch Romanautor: Hendrik „Testo“ Bolz (rechts, aber nur im Bild)

Ein paar Monate später lese ich „Nullerjahre“ (erschienen im KIWI-Verlag) von Hendrik Bolz a.k.a. Testo und es nimmt mich ziemlich mit, ich kann’s nicht anders sagen. Der Untertitel „Jugend in blühenden Landschaften“ lässt sich zwar leicht als Fallhöhe identifizieren, aber wie tief es dann mitunter runtergeht, das muss man erstmal aushalten können. Testo wirft Schlaglichter aufs Aufwachsen in der ehemaligen DDR – genauer gesagt spielt die Geschichte an der Ostsee, Stralsund Knieper West, ein vom Plattenbau definierter Stadtteil. Faschos, Gewalt, Drogen – diese Mixtur Ost dürfte selbst Wessis zumindest als Legende nicht fremd sein, doch hier kommt sie einem näher als je.

Dass Testo genau diese Story, die seine eigene ist, erzählt, fällt dabei nicht vom Himmel: Bei seinem Duo Zugezogen Maskulin ist das Thema vergessene (statt blühende) Landschaften schon immer Hintergrundrauschen gewesen – und zwar eines, das oft auch ganz zentral im Vordergrund steht. Die Welt von Hass, Hinterland, Meth findet sich zum Beispiel eindrucksvoll betextet bei Testos Partner Grim104, dessen Song dazu heißt „Crystal Meth in Brandenburg“. Und bei Zugezogen Maskulin ist das Stück, das Testos Buch an diversen Stellen vorauseilt „Plattenbau O.S.T.“ – und damit über sieben Jahre alt.

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Für Außenstehende besitzen solche popkulturellen Ausflüge in das hermetische Mysterium „die Platte“ einen Reiz, klar. Das ist wie wenn einem Karl May vom Wilden Westen erzählt. Auffällig ist hier aber – allein in den YouTube-Kommentaren –, wie sehr Zugezogen Maskulin Menschen aus dem Herzen sprechen. Nur mal drei Auszüge dessen, was sich unter „Plattenbau O.S.T.“ lesen lässt:

  • „Ich bin 35 Jahre alt, habe das alles hinter mir – mein Plattenbau war ohnehin ein Dorf – mit Weiden, Kühen und Schützenfest. Warum treibt mir dieses Lied immer noch Tränen der Erleichterung, genauso wie Tränen der Trauer in die Augen?“
  • „16 Jahre Jugend in Hohenschönhausen zwischen grauen Blöcken in endlosen Herbst- und Wintermonaten voller Langweile, Arbeitsamt und Betäubung.“
  • „Ich verbinde das Stück mit meiner Jugend in der ostdeutschen Provinz und dem Gefühl der Perspektivlosigkeit und Vernachlässigung. Mit jeden Tag das letzte Geld zusammenkratzen um 3 Steine für ’nen 10er zu kaufen, mit Freunden die auf Crystal hängen bleiben – und jedes Wochenende mit Faschos kloppen.“

DAS COVER

Erst nach der Lektüre geht mir auf;: Das seltsame blaue Ding vor’m Kopf der Figur auf dem Cover muss eine Tüte sein. Einer der Kicks, die das Buch beschreibt, ist nämlich das Schnüffeln von Feuerzeugbenzin. Oder wie es in dem schon erwähnten „Plattenbau O.S.T.“ so gruselig heißt:

„Wir sind die coolen Jungs / Mit Gas in unseren Kinderlungen“

DAS BUCH

„Nullerjahre“ ist wirklich ein beeindruckendes Debütwerk, der Stil klar und kühl. Die Handlung in ein paar Worten: Testo wächst auf und bahnt sich in jenem Stralsund nach der Jahrtausendwende einen Weg durch den realexistierenden Nicht-mehr-Sozialismus. Auf die Fresse, Saufen, Wichsen, Rennen, Langeweile, Pumpen, Skins, Rap, Fun und der EMP-Katalog sind wiederkehrende Checkpoints der Erzählung.

Biographien mit soziokultureller Bedeutung neigen dabei ja oft zur nachträglichen Prototypisierung ihrer Figuren, davon verschont Hendrik Bolz uns. Seine ausgewählten Storys geben sich betont profan, hier gibt es keine Läuterung, keine Turning Points, keine Urteile, „Nullerjahre“ öffnet einfach das Tor zu einer (männlichen) Jugend dieser Zeit an diesem Ort. Dass das vollkommen reicht für ein intensives Buch, weiß der Autor und diese Gewissheit stellt letztlich die große Kraft der Erzählung dar.

DIE POPKULTUR

Ich selbst bin im Osten immer wieder auf sehr aktive linke und bunte Szenen getroffen, die oft weit aktiver und organisierter waren als ihre westdeutschen Pendants – das natürlich auch sein mussten, denn die Bedrohungslage für Autonome Zentren ist dort an vielen Orten sehr viel konkreter. Erinnere mich an eine S-Bahn-Fahrt nach Potsdam in den Nuller Jahren, ich hatte dort eine Veranstaltung, in den Wagen stieg plötzlich ein Dutzend Skinheads zu als wäre nichts, Springer-Stiefel, weiße Schnürsenkel, Thor Steinar, die ganze Uniform halt. Sicherlich gab es auch rechte Strömungen dort, von wo ich gerade herkam (in dem Fall Köln), aber die obszöne Normalität, mit der sich diese Gruselfiguren hier den Raum nahmen, hat mir damals einen kleinen Eindruck gegeben, wie es subkulturell hier in vielen Gegenden die Stunde geschlagen hat.

„Für die tonangebenden Rechten galt jede Person, die ansatzweise individuell aussah oder sich auch nur zu einem ‚Ich habe nichts gegen Ausländer!‘ hinreißen ließ, schon als ‚Zecke‘, ganz egal ob Hippie, Punk, Grufti, Hiphopper, Skater, Metaller. Alles war unter diesem Begriff subsumiert und zum Abschuss freigegeben. Beleidigt, bedroht, bespuckt, gejagt, geschlagen, getreten, da reichten schon rote Schuhe.“
(Aus „Nullerjahre“, Hendrik Bolz über das Aufwachsen in Stralsund)

DIE POLITIK

Dieses Buch ist natürlich auch Zeitgeschichte und erzählt dir unter der Oberfläche mehr von der realen Wiedervereinigung als jede Broschüre der Bundeszentrale für Politische Bildung.

„Noch 1991 versprach Helmut Kohl, die Regionen Ostdeutschlands würden sich binnen drei bis vier Jahren in blühende Landschaften verwandeln, sieben Jahre danach erklärte sein Nachfolger Gerhard Schröder den Aufbau Ost zur ‚Chefsache‘ , wiederum vier Jahre später war der Osten mehr denn je vom Westen abhängig und das Einzige, was in den Ruinen der nachhaltig zerschlagenen Industrie erblühte, waren Minijobs, Transferleistungen und demütigende ABM-Maßnahmen.“
(Aus „Nullerjahre“, Hendrik Bolz)

DIE PROVINZ

Wenn „Nullerjahre“ der literarische und Zugezogen Maskulin der musikalische Arm sind, einem authentischen Lebensgefühl abseits der großen Metropolen nachzuspüren, ist „Zum Dorfkrug“ der talkshow-mäßige. Hier laden sich Testo und Grim104 seit letztem Jahr andere Künstler*innen ein, um über Jugend in der Provinz zu sprechen. In diesem Fall regionenübergreifend. Mittlerweile sind neunzehn Episoden entstanden, zu Gast waren unter anderem Yvonne Catterfeld, Jennifer Weist, Aminata Touré, Bill Kaulitz und El Hotzo. Neben den regionalen Unterschieden zeichnen sich aus dem Patchwork der Gespräche aber auch schöne bis schreckliche Teenager-Erfahrungen ab, die jeder und jede kennt und die ganz offensichtlich gar nicht so individuell sind, wie man sie einst erlebt hat. Das ist spannend, das ist tröstlich.

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Hendrik Bolz in den Nuller Jahren

DAS GESPRÄCH

Schön, dass du in dieser Kolumne nun auch noch selbst auftauchst, Hendrik.Nullerjahre“ ist dein Autorendebüt. Wie lief das Schreiben für dich: Einfacher als gedacht, oder gab es Krisen?

HENDRIK BOLZ: Nein, ich hatte keine großen Krisen. Ich hatte das Buch im Kopf eigentlich schon lange fertig und bin ewig schwanger mit dieser Geschichte rumgelaufen und musste einfach nur noch aufschreiben. Ich hatte richtig Spaß am Schreiben, hab mich nicht gezwungen oder gequält und merke auch, dass es mir einfach liegt.

Ich bin von der Story, aber auch dem Stil sehr beeindruckt gewesen. Nach einem Drittel hätte ich es aber beinahe weggelegt – und zwar wegen der Gewaltdarstellungen. Ist „Nullerjahre“ für dich auch eine Traumabewältigung gewesen?

HENDRIK BOLZ: Ja, vielleicht. Es hatte etwas total Heilsames, nochmal so intensiv in diese schmerzende Wunde einzutauchen, nachdem ich die so viele Jahre beiseitegedrückt hatte. Auch was die Umstände damals anging, dieses Mir-Bewusstwerden: Ich bin in eine Ausnahmesituation hineingeboren, war Kind in einer Zeit, die eigentlich nicht für Kinder gedacht war. Das alles ist so unbesprochen und es ist gut, dass das jetzt mal ans Licht kommt, auch andere Leute sich erinnern und wir gemeinsam was daraus lernen und gemachte Fehler sich nicht wiederholen.

Hast du eine Vorstellung, was/wie du jetzt wärst, hättest du Stralsund nicht verlassen?

HENDRIK BOLZ: Schwierig. Ich glaube, ich hätte mich letztendlich ganz ähnlich entwickelt, das war schon in mir angelegt, könnte höchstens sein, dass ich noch etwas länger gebraucht hätte und noch ein paar mehr schlechte Entscheidungen getroffen hätte. Vielleicht würde ich heute irgendwo im Tourismus-Bereich arbeiten.

In dem Podcast mit Grim104 geht es um Provinz-Erfahrungen – wo findest du dich in den Storys der Gäste wieder und an welchen ist deine Biographie dann doch ziemlich unique?

HENDRIK BOLZ: Ich glaube, meine Biografie ist eigentlich überhaupt nicht unique, viele Menschen meiner Generation in anderen Teilen Ostdeutschlands können ganz Ähnliches erzählen und was diesen persönlichen Abstieg und diese allgemeine Düsterkeit angeht, ist meine Story dabei auch noch lange nicht das Ende der Fahnenstange.

BONUSFRAGE: Wie ist die Vorstellung, bald als „Literat“ auf Bühnen zu sitzen statt zu rappen?

HENDRIK BOLZ: Ganz gut eigentlich, hab richtig Bock drauf. Und wenn mir das Rumgebrülle und Gehüpfe fehlt, kann ich das ja auch bald wieder machen.

DER SOUNDTRACK

Die Nullerjahre werden uns ganz sicher auch über dieses Buch hinaus noch verfolgen. Der nächste große Retrotrend steht unter dieser Headline zumindest schon in den Startlöchern (beziehungsweise ist an einigen Stellen bereits auf der Strecke). Daher hier auch ein wenig musikalisches Kolorit dieser Zeit – angeleitet von unserem Autoren:

„Hendrik, was sind deine 5 Lieblingsstücke aus den Nuller Jahren?“

01 Joe Rilla „Der Osten rollt“

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02 Sido „Mein Block“

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03 Nelly Furtado „Promiscuous“

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04 Papa Roach „She loves me not“

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05 Linkin Park „One Step Closer“

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P.S.: HIER NOCH EINE PLATTENKRITIK

Na Sabine, wie sieht‘s aus in München?!
„LSabineD“

Geographisch viel zu weit westlich (Neuss), um einen Bogen zu dem Buch von Hendrik zu schlagen, aber von der Wirkungszeit her passt es. In den Nullerjahren firmierte eine geschmeidige Beat-Band unter diesem unpraktischen Namen: Na Sabine, wie sieht’s aus in München?!

Hey, verhaltensauffällige Künstler*innen, das ist ein Satz, das ist kein Bandname! Aber geschenkt, hängen geblieben ist er mir zumindest. Die Musik dazu erinnerte an Mod-Pop, an Northern Soul trifft Hamburger Schule, also an Acts wie Superpunk, Merricks oder Der englische Garten. Und wenn ich diese Pressung hier richtig kapiere, wurde 2010 noch ein weiteres Album fertiggestellt, aber nie gepresst. Also, wer sich an diesen sprühend sympathischen Act noch erinnern kann, zieht euch eine der limitierten Vinyl-Platten, denn die Band mit dem Namen, den ich nicht noch mal wiederholen werde, hat dieses Werk nun doch noch in Scheiben gegossen. Unterhaltsam as fuck, wenn ich das so salopp schreiben darf. Immer für einen (musikalischen) Gag gut und sich nie sicher, ob man jetzt crazy oder elegant sein möchte. Aber am Ende sind sie eh beides.

Für Indie-Nerds der oberen Leistungsklasse zu beziehen unter: LsabineD@eclipso.de

STILL T.I.R.E.D. – Paulas komplett kranke Popwoche (Superbowl-Spezial)

Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte im Überblick.

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