Popkolumne, Folge 156

Pop ist abgeschafft: So klingt das Kriegs- und Seuchenjahr 2022 in 11 Songs


Vor lauter schlechten Nachrichten – ist es da überhaupt noch opportun, sich mit Pop zu beschäftigen? Macht man sich aktuell nicht verdächtig, wenn man nicht entweder die Welt zu retten sucht oder wenigstens heult? Auf jeden Fall, Leute! Aber auch der Untergang braucht einen Soundtrack. Linus Volkmann hat in unserer Kolumne elf unverbrauchte Hits für die Endzeit zusammengetragen.

„Es ist nicht schön, in diesen Tagen Konzerte bewerben zu müssen, aber wir spielen am …“

Wenn aktuell Bands ihre (dreimal verschobenen) 2GPlus-Live-Termine oder gar lange rausgezögerte Veröffentlichungen auf Social Media kommunizieren, dann klingt es nicht so, als würden sprühende Künstler*innen ihre Fans mit auf die Piste nehmen. Nein, es macht eher den Eindruck, als müsste sich die bunte WG bei der Hausgemeinschaft entschuldigen, dass es später noch etwas laut werden könnte. Aber nicht lange, versprochen! Und klar, könnt ihr rüberkommen, wir würden uns freuen. Aber müsst ihr nicht, habt bestimmt eh gerade keinen Bock wegen Weltlage und der ganzen Scheiße!

Klingt diffus lustig, in Wahrheit aber ist natürlich längst keiner Band mehr zum Lachen zumute. Zu oft hat man seine Gigs verschoben, seine Leute vertröstet und fragt sich mittlerweile sowieso schon: Sind es überhaupt noch „die eigenen Leute“? Oder sind alle längst weitergezogen zu TikTok, Twitch, Netflix oder in die innere Emigration abgetaucht?

Vielleicht müsste man seinen Bock, Musik machen zu wollen, doch lieber verlagern. Die Bundeswehr soll doch jetzt 100 Milliarden bekommen, vielleicht sind da auch ein paar Euro drinnen für ein Indie-Musikkorps. Oder warum nicht mal Sprechgesang statt Marschmusik, um die Truppe bei Laune zu halten? Puh, so richtig satirisch klingt das gar nicht, wenn man es jetzt hier so liest.

Doch liebe Künstler*innen mit Musikhintergrund, keine Sorge, wir haben und werden euch nicht vergessen. Vielmehr wissen wir zu schätzen, was ihr trotz dieses popfeindlichen Klimas alles immer noch raushaut. Und diese Kolumne soll einfach mal elf ganz junge Stücke highlighten. Gerade auch weil man Musik und Acts dieser Tage kaum im Club um die Ecke oder in der Halle an der Ausfallsstraße bestaunen (lies: ablecken) kann.

Eine natürlich heillos subjektive Liste, es handelt sich um aktuelle Songs, die ich mitbekommen und als großartig taxiert habe. Ihr kennt garantiert noch nicht alles aus dieser Zusammenstellung. Viel Spaß!

Mitski
„The Only Heartbreaker“

Mitski ist, wenn man es positiv labeln will, eine Weltenbummlerin. Oder vielleicht sollte man eher wurzellos sagen: Der Vater, ein Amerikaner, arbeitet für das US-Außenministerium, so zog die Familie in die unterschiedlichsten Länder. Nie für länger. Mitski, deren Mutter Japanerin ist, klingt vielleicht daher auch nach Welt-Pop. Schwelgerisch, pointiert, ein Hauch von Eighties. Dieser Song hier ist so bittersüß und hat mich gekriegt, weil er an eine meiner großen Lieblingsbands erinnert: Future Islands. Nur eben mit einer weiblichen Stimme und noch mal einem anderen Twist.

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Future Islands
„King Of Sweden“

Speaking of Future Islands. Die haben gerade auch etwas Neues veröffentlicht. Ich kann bei der Band nicht mehr wirklich sagen, ob das alles ganz große Kunst auf kleinem Raum (Bierdeckel) ist, oder ob hier mittlerweile bloß noch ein einziges riesiges Selbstzitat-Patchwork vorliegt. Aber guess what… selbst wenn es Letzteres wäre, ich liebe Wiederholung im Pop (oder wie es bei Diedrich Diederichsen mal hieß: „Musik hören, heißt wiederhören“).

Na, dann… gute Nachrichten! Der neue Song von Future Islands klingt so berührend vertraut wie alle davor.

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Schwesta Ebra
„Alle wollen Beef X Verkehrt“

„Heutzutage können Frauen nix, außer wie ein Opfer mit Sisha-Schlauch und Filter in der Fresse Selfie-Videos machen…“

Schwer auszuhalten, wenn Schwesta Ebra ihre Doppelsingle auf YouTube mit Mackerkommentaren aus dem Internet einleitet. Aber ihr Ding ist das Sichtbarmachen von Ungleichheit – und Schweinereien darüber hinaus. Ebra, die eigentlich Ebru Sokolova heißt, kommt aus Wien und ist zusammen mit ihrer Freundin einer der Shooting Stars einer neuen queeren Szene, die vor allem über Social Media (in Ebras Fall TikTok) sich selbst und ihre Kunst verbreitet. Neben Rap-Songs stellt die 24-Jährige dort kleine Clips auf, die aus Dudes wie 187 Straßenbande beziehungsweise gleich dem kompletten Patriarchat den Witz machen, der sie eh sind. Last words an dieser Stelle? Folgt Schwesta Ebra auf Instagram!

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Steintor Herrenchor
„Postkarten“

Eine gute und eine schlechte Nachricht… die gute ist, dass ich euch mit diesem Tipp hier aufreizend früh auf ein (vermutlich) ganz großes Ding setzen kann. Endlich mal ein Hype, von dem man nicht erst über t-online oder den Postboten hört. Und die schlechte Nachricht? Weil das alles so frisch und unbetreten ist, kann ich an dieser Stelle nur ganz sparsame Informationen vermitteln, habe selbst keine Ahnung. Aber was braucht man schon mehr als einen Song, um sich zu verknallen? Die Band jedenfalls stammt aus Hannover, Musik ist dunkler New Wave mit NDW-Färbung. Für mich eine ähnlich mitreißende Entdeckung wie damals, als ich zum ersten Mal „Alles Grau“ von Isolation Berlin hörte…

Das Steintor in Hannover stellt übrigens einen konkreten Ort dar und zwar einen, an dem in der schönen Jahreszeit ausdauernd gecornert wird. Tja, wie denkt ihr jetzt über meine Recherche-Skills!

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Sam Vance-Law
„Get Out X Been Drinking“

Im Januar 2020 habe ich auf einem Podium gesessen, auf dem war auch Sam Vance-Law geladen. Der smarte Kanadier sprach gefühlt besser deutsch als ich, obwohl er noch gar nicht so lange in Berlin lebt. Begeistert sang ich ihm seinen Song „Gayby“ vor. Er nickte freundlich und abmildernd. Augenscheinlich kannte er ihn schon und wollte mich vor allzu großer Selbstentblößung schützen. Wie wenig er mich zu kennen schien! Jedenfalls sprachen wir über seine zweite Platte, die stünde im Sommer an.

Wenige Wochen später war Corona da und Popveröffentlichungen quasi von einem zum anderen Tag alle Luft rausgelassen. Sam Vance-Law streckte die Wartezeit mit seiner NDW-EP, aber 2022 konnte er nicht länger auf den „neuen“ Songs sitzen bleiben like a mad chicken. Wie Schwesta Ebra eröffnet er gleich mit einer Doppel-Single – ach ja, und im Video spielt Drangsal mit. Wenn das hier nicht perfekter Pop mit Messer hinter’m Rücken ist, weiß ich auch nicht…

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Bipolar Feminin
„Süß lächelnd“

In diese Woche fiel ja auch der Frauen*kampftag. Da muss ich an einen alten Freund aus Studientagen (stellt euch mich als eine Schwarzweiß-Figur aus „Die Feuerzangenbowle“ vor) denken. Der schrieb mir unlängst zu meinem Podcast über Hörspiele. Jenen könne er nicht mehr hören. Begründung: Wir würden darin gendern – und wenn man ihm „in den Mund spucken würde, würde er sicher nicht auch noch schlucken“. Könnte kinky sein dieser Ausspruch, ist aber bloß trist. All jenen Al Bundys sei dieses tolle Stück hier gewidmet, auf das mich Christian Ihle gebracht hat. Hier geht’s nicht um Wohlfühl-Feminismus, hier wird nicht dem Boomer-Lamento Rechnung getragen, „auch die Männer abzuholen“… Nein, hier gibt’s einfach Ärger. So zauberhaft aufs Maul wie bei Bipolar Feminin gibt’s sonst nur bei Deutsche Laichen.

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Christin Nichols
„I’m Fine“

Diese Künstlerin und ihr erstes Solo-Album sind auch schon lange Thema, nun ist letzteres endlich erschienen. Es möge gebührend geliebt und gefeiert werden. Seht euch doch einfach nur diesen fantastischen Clip zum Titeltrack an. Christin Nichols ist unsere Lisa Simpson–- nur betrunken und weniger ausgleichend. What’s not to like!

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Pauls Jets
„So richtig in Love“

Ich liebe Österreich, ich esse Manner-Schnitten in meiner Freizeit und habe seinerzeit „Amore“ quer über meinen Wagen getaggt. Aber ich sage es ganz ehrlich, mit der neuen Platte von Bilderbuch kann ich wenig anfangen. Da gibt es dieses Frühjahr eine, aber es ist alles so betont kühl und um die Ecke frisiert … so viel Inszenierung, so wenig heart. Aber daher ohne Austropop leben? Nein danke! Die Zeit bis zum Armageddon kann man sich doch perfekt vertreiben mit dem gemischtgeschlechtlichen Trio Pauls Jets. Viel Spleen von den alten Ja, Panik! steckt hier drinnen und noch mehr von einer neuen Generation Wiener Big Styler. Album heißt JAZZFEST, seid dabei.

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Die Rheinischen Frohnaturen
„Bin ich erstmal blau“

Okay, wer ist die einzige Band, die größer aus der Pandemie rauskam, als sie in diese hineingegangen ist? Na, klar, die Antilopen Gang. Das unschlagbare Klavier-Album von „dem Schönen“ der Gruppe (Danger Dan) hat es möglich gemacht. Zum Jahreswechsel hat das Rap-Kolletkiv dann aber auch noch mal gemeinsam ein Mix-Tape-Album rausgebracht. Mit vielen Gästen und Überraschungen. Wobei dieser Song hier ganz sicher die größte davon darstellt: Die Antilopen mit einem (sogar leicht queeren) Mallorca-Vollrausch-Stomper, bei dem speziell Panik Panzer als sinistrer Animateur glänzt. Wer schon mal zu Musik mehr als zwei Gläser Alkohol getrunken hat, dem sei dieses ehrabschneidende Stück Meta- beziehungsweise Mega-Humor dringlich empfohlen.

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Gwen Dolyn & Toyboys
„Dr. Murkes“

Ein großes musikalisches Glück meiner Teenie-Zeit stellte die Musik von EA80 dar. Die lief unter Düsterpunk, aber ich und die anderen Emopunks haben dazu eher nicht auf Riot gemacht, sondern uns lieber geritzt und dabei geweint, wenn EA80 lief. Die schroffen, verkürzten Songs der Band aus magic Mönchengladbach sind allerdings so gut, die müsste mal wer covern und mit einem New-Wave-Feeling versehen. Dass das jetzt tatsächlich getan wurde, schafft mich komplett. Was für eine unfassbare mächtige Version des ohnehin schon tollen Stücks „Dr. Murkes“. Die Umsetzung von Gwen Dolyn habe ich mir die letzten Wochen unablässig ins Hirn gezimmert, wie wir ausgebildeten Journalist*innen in unserer abgehobenen Fachsprache gern sagen. Gwen Dolyn und ihre Leute kommen ansonsten aus Frankfurt und haben natürlich noch mehr drauf als nur EA80-Klassiker, eh klar.

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Kreator
„Hate Über Alles“

Jetzt nicht gerade ein Geheimtipp, eine Band zu empfehlen, die bereits seit Erfindung des Buchdrucks immer wieder „heftig abrockt“. Dennoch geht ja gerade bei so einem immensen Oevre wie dem der Essener Thrashband Kreator oft mal das jüngste Album unter – und alles findet sich dann doch nur wieder zusammen bei den Hits von Neunzehnhundertschießmichtot. Was in dem Fall wirklich schade wäre. Denn dieser Song bringt neben der Band einfach mal die ganze Welt auf den Punkt…

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Soll man lieber alleine trinken? – Paulas Popwoche mit Politik, Pop & Pietät

Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte im Überblick.

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