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30 Jahre Mauerfall: Diese Songs hätte es ohne die Wiedervereinigung so nicht gegeben


Vor 30 Jahren fiel die Berliner Mauer, Deutschland ist seit 29 Jahren wiedervereint. Was sagt die Popmusik dazu, und was hat sie in diesen Jahren zu sagen gehabt? Eine Auswahl von sehr unterschiedlichen Stücken, die sich mit dem Leben hier beschäftigen, mit den Eigenarten und Problemen dieses Landes — und mit seinen Extremen.

19. Knarf Rellöm Trinity – Arme kleine Deutsche (2005)

Ein hämischer, kleiner Elektrotwist wird noch mal so richtig deutlich.

Bevor Knarf Rellöm im November 2006 mit MOVE YOUR ASS AND YOUR MIND WILL FOLLOW mitsamt seines Sound-Raumschiff-Personals nur noch ganz weit weg wollte und also außerirdisch wurde, gab der wandlungsfähige Ex-Huah!-Leader dem neuen Nationalbewusstsein noch einen mit – als Songbeitrag für das unmissverständlich betitelte CD-/Buch-Paket „I Cant Relax in Deutschland“. „Arme kleine Deutsche“ macht als expliziter Elektro-twist deutlich, dass ein wie auch immer gearteter, neuer Nationalstolz keine alten Probleme löst. Wahre (Selbst-)Liebe kennt keine Nationalität! Und frei nach Sun Ra findet auch die Trinity, die heute als A Tribe Called Knarf firmiert, ihren place stets nur im offenen space. ms

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20. Rocko Schamoni – Mauern (2005)

Der King löst den gesamtdeutschen Konflikt, und den gesamtmenschlichen auch.

„Du und ich, wir haben Probleme. Wo kommen die Probleme her? Wir leben viel zu eng zusammen, das wollen wir nicht mehr!“ Bei der Keimzelle von Gesellschaft und aller Popmusik – dem Du & Ich – beginnt Rockos Lösungsvorschlag für Konflikte zwischen Menschen: zu viel Nähe ist die Ursache, man muss die Menschen trennen! Das betont naiv gereimte Text-Paradox zu 70s-Bigband-Schlagersound verschiebt er durch das Aufrufen der Mauer, Sinnbild des größten deutschen Nachkriegstraumas, smooth an die Grenze des Tabubruchs. Obwohl Rocko eher an der symbolischen Power des Wortes Mauer und dessen Aufladung durch die Geschichte interessiert ist und ebendies für sein, allen Pop-Konventionen zuwiderlaufendes, Plädoyer gegen die Annäherung nutzt, wurde der Song Wahlkampfhymne der Satire-Partei „Die Partei“. Und die forderte ja nun tatsächlich eine neue Mauer. bjs

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21. Joe Rilla feat. Sido – Ostwest (2005)

Ostler und Ost-Westler reichen sich die Hand.

In den Strophen hauen sich der Rapper aus Marzahn und der Rapper aus dem Märkischen Viertel die Ossi-/Wessi-Vorurteile um die Ohren. Im Refrain rufen sie dann mit sympathischer Naivität zu einem echten Neuanfang auf. Das ist guter Themenrap – der im Rückblick mindestens zwei Nachgeschmäcker hat: Der Wessi Sido hat sich inzwischen als Eigentlich-Ossi geoutet. Und Rilla macht – mit dem Duo Haudegen, unter seinem bürgerlichen Namen Hagen Stoll – auf eher unappetitliche Weise Kasse mit Gedankengut, das den hier noch ironisch vorgetragenen Vorurteilen ziemlich nahe kommt. Ein Song, der vor allem dank seiner Nachgeschichte mehr über dieses Land aussagt, als er eigentlich beabsichtigte. db

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22. Sportfreunde Stiller – ’54, ’74, ’90, 2006 (2006)

Die beinahe unangreifbar sympathische Fußballhymne.

Als Band gewordene Unschuld vom Lande (München) rutscht dem formerly Indie-Rock-Trio zur WM in Deutschland die größte Fußballhymne aus der Trainingstasche, die dieses Land bis dato mitgrölen durfte. Auch wenn die Sportfreunde natürlich sehr genau wissen, wie ein solches Hauruck-Stück funktionieren muss, ist ihre gewisse charmante Unbeholfenheit der Schlüssel zum Erfolg. Hier reimt der Fußballfan und Popmusikant Peter Brugger tatsächlich „mit dem Herz in der Hand und der Leidenschaft im Bein“ und singt kaum besser als die Kicker der deutschen Nationalmannschaft, die zum Abschied auf der Berliner „Fanmeile“ mitsamt der Band das Lied zur Aufführung bringen. Am Ende kürt der völlig aufgekratzte Boulevard das drittplatzierte Team, deren Fans und schließlich das ganze Land zu „Weltmeistern der Herzen“. Dass Sport- und 1860-München-Freund Flo später im Interview allerdings erzählt, dass er Bastian Schweinsteiger zuerst mit den Worten „Hau ab, du Bayernsau!“ von seinem Schlagzeug ferngehalten haben will, macht zwei Dinge deutlich: 1) National(mannschafts)stolz hat seine Fan-Grenzen. 2) Wer tatsächlich glaubt, Fußball könnte der Völkerverständigung dienen, hat keine Ahnung von diesem Sport. ogö

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23. Blumfeld – Deutschland der Deutschen (2007)

Dem Mahner mit der Songwriter-Gitarre ist bange.

Wie Jochen Distelmeyer wohl die WM 2006 erlebt hat? Alleine zu Hause, schmollend? Oder heimlich beim Public Viewing, dem Gegner die Daumen drückend, den Polen und Argentiniern? Auf diesem vielleicht letztem Blumfeld-Lied überhaupt formuliert er zur akustischen Gitarre sein Unbehagen mit dem kollektiven Jubel, den Deutschlandfahnen, der fröhlichen Mobilmachung des neuen Deutschlands. Es fällt leicht, ihm zuzustimmen. Vor allem, wenn er warnt, dass, während die Sorglosen die Fähnchen im Wind wehen lassen, andere die Fahnen hissen werden. Was Distelmeyer außer Acht lässt, ist die Vielfalt der Deutschen im Jahr 2007. Er singt: „Es geht wieder los, sie singen ihr Lied. Unschuldig wie einst ihre Ahnen.“ Es feiern aber auch Deutsche mit Wurzeln in der Türkei und Tunesien, Syrien und Ghana. Mit anderen Ahnen. Distelmeyers Kritik trägt eine graue Brille. ab

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24. Egotronic – Raven gegen Deutschland (2007)

Und tanz den Antideutschen!

Der Patriotismus-Erosion nach der Fußball-WM 2006 stellt sich vor allem die „Antideutschen“-Bewegung entgegen. Eine in den Nullern besonders starke Strömung der Linke, die sich unter anderem über eine alternativlose Israel-Solidarität definiert. Ihr popkultureller Arm waren und sind Egotronic. Schneidend, unversöhnlich und tanzbar geriert sich ihr bekanntestes Stück „Raven gegen Deutschland“. Der Song richtet sich auch gegen die eigenen Reihen, so ätzen Egotronic in dem Sequel des Stücks („Kotzen“, 2008) dezidiert gegen „Zecken, die den Schweini toll finden“. Kein Fußbreit der Nation – das holte viele ab, die hinter der Fratze der neuen Lockerheit nur eine weitere Inkarnation deutschen Großmachtbestrebens vermuteten. lv

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25. Deichkind feat. Das Bo –Ich habe eine Fahne (2014)

Das ist die perfekte Grätsche!

Und wieder Fußball: Zur WM in Brasilien verschenken die subversiv-krawalligen Pyramidenköpfe einen Anti-WM-Song, der trotz seiner grundsätzlichen Boshaftigkeit mit seinem Trap-Beat und enervierender Synthie-Quietsche einem dermaßen die gute Laune einprügelt, dass selbst ungeübte Booty-Shaker Hüftzucken bekommen. Fifa, Kickerprominenz, Besäufnismasse bekommen hier ihren Reim weg, vor allem aber wird der Fahnenschwenker-Patriotismus als das enttarnt, was er ist: schafsblödes Herdengetrampel, für das Politik und Wirtschaft gar keine Verschwörung brauchen, um es für ihre Zwecke zu nutzen. Wer das zugehörige Video mit den lebendig gewordenen Panini-Bildchen nicht kennt: Irgendwo im Internet versteckt sich dieses Meisterwerk der 1000 Anspielungen und gut versteckten Fouls, das keinen Unterschied macht zwischen aufm Platz, neben dem Platz oder in der VIP-Loge. ogö

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26. Antilopen Gang – Beate Zschäpe hört U2 (2014)

„Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“ Was, dass die Nazis im Mainstream angekommen sind?

„Max Mustermann zündet ein Flüchtlingsheim an“, prognostizieren die Düsseldorfer HipHopper bereits Ende 2014. Ein Jahr später ist dieser Max Mustermann ein Feuerwehrmann aus Salzhemmendorf und schmeißt einen Molotow-Cocktail in eine solche Unterkunft. Die Botschaft der Antilopen Gang, die Neonazis hausten heute nicht mehr im Untergrund, sondern seien längst mitten unter uns, ist tagesaktuell. Der Refrain nennt die üblichen Verdächtigen: Zschäpe, Grass und Holger Apfel, Möllemann und den Neo-Nazi-Rapper MaKss Damage. Doch in den Strophen beobachtet die Antilopen Gang mit sehr gutem Auge, wann, wo und wie sich neunationalistisches Gedankengut in den Mainstream einschleicht und plötzlich zum guten Ton gehört. Das Faseln vom „Volksentscheid auf Bundesebene“, die Mär von „inländerfeindlicher Familienpolitik“, die Sorge um Mutters Rente und ums Wohl der Tiere – das Böse versteckt sich in der Banalität, das Gerede der Stammtische verlässt die versifften Kneipen und zieht mit Bierfahne auf die Straße. Und Max Mustermann zieht mit. ab

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27. Kettcar – „Sommer ’89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)“ (2017)

Vordergründig ging es in Kettcars Comebacksingle nach fünfjähriger Auszeit um einen jungen Aktivisten, der Wochen vorm Mauerfall sächsischen Familien bei der Flucht in den Westen hilft. Hintergründig geht es aber um die ganz grundsätzliche Aussage, die Schriftsteller Benedict Wells so zusammenfasst: „Gut, dass es immer schon Menschen gab, die anderen Menschen einfach halfen – und erst danach darüber diskutierten.“ Kettcar brachen mit „Sommer ’89“ das Schweigen viel zu vieler anderer deutschsprachiger Musiker zwischen Flüchtlingskrise 2015 und Bundestagswahl 2017. In jeder dringlichen Sekunde der 4:58 Minuten langen gesungenen Geschichte machten Kettcar deutlich, warum darüber verdammt nochmal gesprochen werden muss. (fab)

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28. Trettmann – „Grauer Beton“ (2017)

„Seelenfänger schleichen um den Block und machen ein Geschäft mit der Hoffnung.“

Kein anderer Deutschrap-Track beschreibt das Aufwachsen in der DDR und die Wiedervereinigung so gut wie „Grauer Beton“. Trettmann, geboren 1973, gibt tiefe Einblicke in den Ort seiner Kindheit und Jugend: die Fritz-Heckert-Wohnsiedlung in Chemnitz, ehemals Karl-Marx-Stadt. Er erinnert sich an die dortige Zeit vor der Wende zurück. An die Perspektivlosigkeit und Tristesse, die in der grauen Hochhaus-Siedlung herrschte. Im Zuge der Wende erzeugten falsche Versprechen ein Gefühl von Leere unter vielen ehemaligen DDR-Bürgern. Unzählige schafften den Absprung aus der grauen Beton-Stadt nicht. Trettmann, mit bürgerlichem Namen Stefan Richter, zeichnet diese Bilder mit seinen Worten so schlicht, eindrucksvoll und anschaulich nach, dass die Diskrepanz zwischen Bedrückung und Hoffnung hörbar wird. Der Song erschien auf Trettmanns zweitem Solo-Album DIY. Das wurde auch abseits von Hip-Hop-Medien als eines der besten Alben 2017 betitelt. Bei uns schaffte DIY es immerhin auf Platz 37. (Jonas Otten)

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29. Gundermann – „Sieglinde“

Gundermann, „Gundi“, grundehrlich 

Enttarnt als Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi hatte der Tagebaulöhner aus dem Spreetal plötzlich mit Glaubwürdigkeit zu kämpfen. Schwere Kiste, die ihn da einholte – im Song „Sieglinde“ von 1993 verarbeitet Gerhard Rüdiger Gundermann, der als einer der größten und beliebtesten DDR-Musiker gilt, seine innere Zerrissenheit über seine Vergangenheit als Spitzel. Zeilen wie „Sie sagen / Du hast mich belauscht / doch außer Dir hat mir nie einer zugehört / und schneller als das Wasser rauscht / hab‘ ich Dir meine paar Geheimnisse diktiert“ bezeugen seinen Glauben an den DDR-Sozialismus. Das kann man so oder so sehen, Poesie ist es allemal. Gundermann starb 1998 an einem Herzinfarkt. Das Leben des „singenden Baggerfahrers“, wie er auch genannt wurde, brachte der ebenfalls in der DDR geborene Regisseur Andreas Dresen 2018 in „Gundermann“ ins Kino und gewann damit beim Deutschen Filmpreis eine „Goldene Lola“ als bester Spielfilm. (Jonathan Anda)

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30. Grim104 – „Crystal Meth in Brandenburg“

Der Rapper Grim104 kreiert in diesem Track ein düsteres, an Horrorfilme angelegtes Bild von Brandenburg. Frustrierte Jugendliche, Hunde in Käfigen, endlose Wälder, verlassene Supermärkte und eine große Menge an Drogen. „Breaking Bad“ war gestern – heute ist der Osten Deutschlands die Hochburg für Crystal Meth. Im Refrain bestätigt der aus Krefeld stammende Rapper alle Klischees über Brandenburg, die von Künstlern wie Rainald Grebe oder K.I.Z in ihren Liedern in die Welt gesetzt wurden. Mit seiner Sprachgewandtheit und starken lyrischen Zeichnungen erschafft Grim104 eine Welt, die gleichzeitig surreal und realistisch erscheint. Der Rapper bildet eigentlich zusammen mit Testo das Duo Zugezogen Maskulin, veröffentlichte jedoch 2013 seine erste und bisher einzige Solo-EP, auf der auch „Crystal Meth in Brandenburg“ zu hören war. (Jonas Otten)
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