ME-Helden

Talk Talk: Wie die Stille in den Pop kam


Mark Hollis schwärmte schon von Ornette Coleman und John Coltrane, als seine Band noch Synthiepop spielte. Doch als ihnen ihr Label freie Hand gab, klinkten sich Talk Talk tatsächlich aus. Sie lösten die Grenzen zwischen E- und U-Musik auf. Ihre Musik erhob sich über die Zeit. Und dann lösten sie sich selbst auf, in dieser Stille, zu der es Talk Talk immer hingezogen hatte. Ein „ME-Helden“-Text aus dem Musikexpress 05/2012, anlässlich Hollis' Tod nun online.

Tatsächlich hat sich auch sein immer schon leicht jammernder Gesang geändert. Jetzt jammert er lauter, kräftiger, wie in „Renee“ oder „Tomorrow Started“. Nasal wie eh und je, aber eben selbstbewusst. Der „NME“ schrieb damals, er klinge „wie ein Mann, der mit dem Mund voller Klebstoff gähnt. Unbekümmert verweist Hollis in Interviews auch hier auf seine Vorbilder, allen voran auf Van Morrison und Otis Redding: „Redding hatte zwei Qualitäten. Eine bestand darin, dass er wirklich singen konnte, er war ein Naturtalent.“ Das ist Mark Hollis nicht. „Die andere war, dass er verstanden hat, was Kraft ist. Er gab alles. Damit Musik gut ist, braucht sie Kraft, Gefühl. In der Minute, in der das Gefühl verschwindet, wird es Kabarett.“ Gefühl hatte Hollis, das schon. Und komisch war schon lange nicht mehr, was er trieb. Heute könnte man sagen: Er war der erste Emo-Sänger.

Talk-Talk-Sänger Mark Hollis, hier im Jahr 1990, starb im Februar 2019 mit 64 Jahren. Dies erklärte sein ehemaliger Bandkollege Paul Webb in den sozialen Medien. Hollis wurde 64 Jahre alt.
Talk-Talk-Sänger Mark Hollis, hier im Jahr 1990, starb im Februar 2019 mit 64 Jahren. Dies erklärte sein ehemaliger Bandkollege Paul Webb in den sozialen Medien. Hollis wurde 64 Jahre alt.

Der Plattenfirma sollte es recht sein, und so wurden Talk Talk mit einem Budget von stolzen 250.000 Pfund erneut ins Studio geschickt. Diesmal sollten der Musik fast alle synthetischen Elemente ausgetrieben werden. Echtes Schlagzeug, echte Gitarren, echte Gefühle. Dafür, dass die Aufnahmen diesmal zehn Monate dauerten und etwa 50 Musiker beteiligt waren, klingt THE COLOR OF SPRING noch überraschend knackig. Die britische Musikpresse freilich hatten Talk Talk da schon verloren: „Hey, darauf hat die Welt gewartet“, schrieb der „NME“ in bewährter Gehässigkeit: „Ein weiterer fertiger Katholik, der seine Bürde mit der Öffentlichkeit teilen möchte.“ So ganz aus der Luft gegriffen war das nicht. Religiöse Themen fanden tatsächlich ihren Weg in die Texte von Talk Talk. Aber immerhin achtete plötzlich jemand auch wieder auf Texte.

Im Jahr 1986 war von Kajagoogoo und dem Culture Club keine Rede mehr. Es war das Jahr von Paul Simons GRACELAND und Peter Gabriels SO. Die Beastie Boys veröffentlichten LICENSE TO ILL und die Smiths THE QUEEN IS DEAD. Und es war das Jahr von Talk Talk: THE COLOR OF SPRING verkaufte sich – bis auf England – überall hervorragend. Die Single „Life’s What You Make It“ bescherte ihnen den dritten Top-Hit in den USA. Talk Talk sind auf dem Gipfel ihrer Popularität angekommen. Die Gruppe geht auf ihre erste – und letzte – Welttournee. So hat die Popwelt Mark Hollis im Gedächtnis, wenn überhaupt: festgekrallt am Mikrofon, mit im Studio bis zu den Schultern gewachsenen Haaren, die verklebt ins Gesicht hingen. Und einer runden Sonnenbrille vor den Augen. Maskiert.

Die EMI macht daraufhin einen schweren Fehler. Sie gibt ihren Schützlingen freie Hand. Offenes Budget. Kein Zeitrahmen. Hätten die Manager der EMI es wissen müssen? Ahnen können, dass Mark Hollis ihnen über 14 Monate den Zugang zum Studio verwehren würde? War ihnen wenigstens mulmig? Vielleicht dachte der eine oder andere an die seltsam ruhigen Songs von THE COLOR OF SPRING, an „April 5th“ und „Chameleon Day“. Oder diese dunkle B-Seite von „Life’s What You Make It“… wie hieß die doch gleich?

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Talk Talk arbeiteten in einer Kirche in Suffolk an einem Kunstwerk, das in seiner eigensinnigen Radikalität vielleicht mit Orson Welles’ „Citizen Kane“, mit Michael Ciminos „Heaven’s Gate“ oder, um im Rahmen zu bleiben, mit LOVELESS von My Bloody Valentine verglichen werden kann. Es ist ein künstlerischer Triumph. Es wird eine kommerzielle Katastrophe. SPIRIT OF EDEN war – und hier hinkt der physikalische Vergleich ausnahmsweise mal nicht – ein Quantensprung. Was Hollis, Friese-Greene, Webb und eine ganze Armada eingeladener Musiker da auf Platte gebannt hatten, hatte mit Pop nichts mehr zu tun. Es hatte auch mit Rock nur noch die E-Gitarre gemein. SPIRIT OF EDEN lässt sich mit kaum etwas vergleichen, was es vorher oder nachher gegeben hat. Obwohl es auch kein Jazz ist, fühlten manche Kritiker sich an die ruhigeren Stücke auf Miles Davis’ KIND OF BLUE erinnert, tatsächlich lassen sich Vergleiche mit dessen 1969er-Werk „In A Silent Way“ nicht leugnen.

Martyn Goodacre Getty Images