Interview

Vince Clarke in Interview: „Zuhause bin ich kein Popstar, sondern ein Nerd“


Vince Clarke im Gespräch über Experimente, eigene Grenzen und die persönliche Traurigkeit.

Im 43. Jahr seiner Musikkarriere veröffentlicht Vince Clarke sein allererstes Soloalbum. Die Popsongs behält er für seine anderen Projekte, insbesondere für Erasure. SONGS OF SILENCE ist stattdessen ein Ambient- und Drone-Album, dessen Minimalismus an besonderen Stellen von einem singenden-streikenden Bergarbeiter oder einem schrecklich traurigen Cello durchbrochen wird. Dazu passt, dass ihm auf den Fotos zur Albumkampagne ein langes Leben ins Gesicht geschrieben steht. SONGS OF SILENCE ist in erster Linie ein Bekenntnis zur Traurigkeit.

Vince Clarke kündigt erstes Solo-Album an

Seit zehn Jahren lebt Vince Clarke in New York, das Zoom-Setting hat er in einem sehr aufgeräumten Schlafzimmer aufgebaut. Schade, dass sein Studio an diesem Tag nicht zur Verfügung steht, sonst hätte er sein Eurorack zeigen können, einen modularen Synthie-Baukasten, mit dem sich zahllose Geräte verschiedener Hersteller koppeln lassen, was – wenn man das System erst einmal gerafft hat – zu unzähligen Möglichkeiten der Klangerzeugung führt. Vince Clarke, Pionier des Synthie-Pop, benötigte ein paar YouTube-Tutorials, um sein Eurorack zu kapieren. Im Gespräch berichtet er von den Vorzügen des Systems, von selbst gesteckten Grenzen sowie von der absoluten Traurigkeit, die sich durch die Musik seines Albums zieht.

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Vince, warum jetzt dieses Solo-Album? Erzähle mir aber bitte nichts von Covid …

Oh, ich habe in der Tat damit angefangen, als wir unter den Lockdowns litten. Ich hatte aber schon vorher das Interesse, eines Tages eine Ambient-Platte auszunehmen. Bis vor Kurzem habe ich aber nicht verstanden, wie man das macht und wie man es interessant gestalten kann. Offensichtlich hatte ich während der Pandemie mehr Zeit als sonst zur Verfügung. Also habe ich angefangen, mit Sounds und Texturen zu experimentieren. So entstanden Stücke, die nicht auf Strophen, Refrains oder traditionellen Arrangements basieren. Die Idee war, zu versuchen, das Interesse an einem Song aufrechtzuerhalten, ohne dass es notwendigerweise traditionelle Marker gibt, wie zum Beispiel einen großen Refrain oder eine kluge Bridge. Ich wollte sehen, ob ich das hinbekomme.

Wann hast du zum ersten Mal gedacht: „Ja, ich bekomme das hin“?

Als ich an „Cathedral“ arbeitete, dem ersten Stück auf dem Album. Es weckt die Emotionen durch Klänge, nicht durch Vocals oder Lyrics. Ich bin ziemlich gut darin,Popsongs zu arrangieren. Ich besitze eine gute Vorstellung davon, welcher Teil des Songs, den ich geschrieben habe, der Refrain ist und wie oft man ihn wiederholen sollte, ohne dass die Leute sich langweilen. Ich verstehe Pop. Und ich habe versucht, diesen Denkprozess auch bei diesen Tracks anzuwenden. Nur, dass es eben nicht um Refrains geht, sondern darum, dass winzige Dinge passieren, kleine Veränderungen. Einige von ihnen passieren nur ein einziges Mal. Was sie zu etwas Besonderem werden lässt, nämlich zu minimalen Höhepunkten auf einer dröhnenden Fläche.

Du hast dir für das Album die Regel auferlegt, dass alle Tracks auf einer Note basieren und dass es keine Harmoniewechsel gibt. Was bewirken solche Einschränkungen?

Wenn man sich keine Grenzen setzt, dann findet man kein Ende. Ich bekomme aber gerne Dinge fertig, daher mag ich Regeln. Auch bei Erasure geben wir uns Regeln. Sie sind es, die am Ende dafür sorgen, dass ein Song oder ein Album einen bestimmten Stil erhalten, der es von den anderen unterscheidbar macht.

Es gab noch eine Regel: Die gesamte Musik sollte nur mit Hilfe eines Eurorack-Systems entstehen. Was genau ist das?

In den späten 70er-Jahren gab es eine Reihe modularer Synthies, den 2500er oder die Geräte von Moog. Die Revolution des Eurorack bestand Mitte der 90er-Jahre darin, dass sich mit diesem System die Komponenten verschiedener Herstellerfirmen miteinander verbinden lassen. Das hat die Schleusen geöffnet, man konnte nun sagen: Okay, ich nehme den Oszillator von Sequential Circuits, die Hüllkurve von Polyfusion und einen Filter von Moog – und mache daraus eine neue Einheit. In der Folge gründeten sich viele neue kleine Firmen, die wirklich aufregende Module herstellen. Die Möglichkeiten wuchsen exponentiell. Wobei mein System nicht sehr groß ist.

Wie groß ist es denn konkret?

(breitet seine Arme aus) Zwei mal meine Spannbreite, so ungefähr. Vor der Zeit des Eurorack gab es häufig Probleme, wenn man einen Synthie-Typ mit einem anderenverbinden wollte. Manchmal passte es nicht, es gab Schwierigkeiten mit der Elektrizität. Mit dem Eurorack hat man nun ein einheitliches System, man kann alles mitallem verbinden. Ich besaß diesen Baukasten schon eine Zeitlang, aber ich verstand ihn nicht, habe ihn deshalb nicht benutzt. Als ich schließlich die Zeit dafür fand, fing ich an, mir Tutorials im Internet durchzulesen und anzuschauen, um zu lernen, wie dieses Zeug funktioniert. Die vielen Möglichkeiten ergeben sich nämlich erst dann, wenn man weiß, wie man sie kreiert.

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Hast du den Typen, die diese Tutorials ins Netz gestellt haben, Rückmeldung gegeben? Nach dem Motto: Hier lernt Vince Clarke, der Miterfinder des Synthie-Pop?

Nein, das ist eine Nerd-Welt, da wird nicht viel kommuniziert. Und ich bin ein Nerd. Ich kann mir ein 20-minütiges Video über einen Oszillator ansehen – und bin immer noch fasziniert. Was übrigens dazu führt, dass das, was ich mache, in diesem Haus sonst niemanden interessiert. Zu Hause bin ich kein Popstar, sondern ein Nerd.

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Wann war dir klar, dass aus diesen Experimenten ein Album erwächst?

Ich habe zunächst gar nicht darüber nachgedacht, ich hatte einfach Spaß am Herumspielen. Kurz vor Weihnachten begegnete ich Daniel Miller von Mute, er fragte mich: „Was hast du die letzten Monate gemacht?“ Ich erzählte ihm von diesen Experimenten, und er sagte: „Schick doch mal rüber!“ Das tat ich, dachte mir aber nichts dabei, ich hatte absolut keine Erwartungen. Dann meldete sich Daniel bei mir und sagte, dass er gerne veröffentlichen würde. Um ehrlich zu sein, erst dachte ich, er hätte Mitleid mit mir, dann glaubte ich, er wolle mich auf den Arm nehmen. Auf jeden Fall habe ich es nicht ernst genommen, bis ein paar Wochen später der Art Director von Mute anrief und meinte: „Vince, wir sollten über das Design des Covers sprechen.“

Das Coverfoto sowie die anderen Fotos zur Kampagne stammen vom Fotojournalisten Eugene Richards, es sind sehr ausdrucksstarke Porträts von dir. Wen siehst du, wenn du dir diese Bilder anschaust?

Mich. Aber auch nicht mich. Die Idee war, ein Foto im Stil eines Dokumentarfilms zu machen. Ich bin großer Fan von artifizi- ellen Albumdesigns, aber ich dachte, dass ein intensives Porträtbild der Platte eine gewisse Ernsthaftigkeit gibt. Der Sound basiert auf Spielereien, aber die Gefühle, die diese Musik bei mir weckt, sind echt. Vielleicht ist es das, was ich auf dem Bild sehe: mich mit meinen Gefühlen.

Es liegt eine gewisse Schwermut in dieser Musik, warum?

(lange Pause) Ich mache im Moment zu Hause eine Menge Dinge durch. In mir ist aktuell eine Menge persönlicher Traurigkeit. Und ich denke, das spiegelt sich in der Musik wider.

Inwiefern hilft Musik, um mit dieser Traurigkeit klarzukommen?

In erster Instanz hilft sie dabei, mal nicht über traurige Dinge nachzudenken. Klar, du machst traurige Musik, aber sie bringt dich dennoch weg von deiner traurigen Realität.

Das Album hat den Titel SONGS OF SILENCE. Ich weiß, dass du ein großer Fan von Simon & Garfunkel bist. Ist der Name eine Hommage an SOUNDS OF SILENCE?

Nein, wenn, dann höchstens sehr unbewusst. Die Idee zum Titel kam mir erst, als die Designphase begann, vorher hatte ich mir überhaupt keine Gedanken darüber gemacht. SONGS OF SILENCE klang für mich sinnvoll, weil diese Stücke auf viele Geräusche verzichten.

Das Stück „Blackleg“ sticht heraus, weil es auf einem alten englischen Arbeiterlied basiert. Du hast eine alte Gesangsaufnahme in den Track integriert.

Das Lied tauchte zum ersten Mal in den 30er-Jahren auf, in der Zeit der ersten großen Bergarbeiterstreiks in Großbritannien. Gesungen wurde es auch später in den 70er-Jahren bei den großen Arbeitsniederlegungen. Die sogenannten Blacklegs waren Leute, die sich den Streiks nicht angeschlossen haben. Entweder weil sie nicht an Gewerkschaften glaubten oder weil sie den Streikenden aus persönlichen Gründen eins auswischen wollten. Kurz: Es waren Verräter. Man nannte sie Blacklegs, weil jeder wusste, wer diese Personen waren. Das waren keine Spione oder so, sondern offensichtliche Streikbrecher. Na ja, und das Lied berichtet davon, wie mit diesen Leuten umgegangen wurde. Der Text ist daher sehr gewalttätig, um es auf den Punkt zu bringen: Der Blackleg-Miner landet in „the pit of hell“. An die Aufnahme kam ich durch Martin Ware von Heaven 17, der sie mir vor einigen Jahren gegeben hatte, mit den Worten: „Vielleicht kannst du ja eines Tages mal was damit anfangen.“ Erst war ich ratlos, auf eine Erasure-Platte passt eine solche Aufnahme gar nicht. Als ich dann diesen Track für SONGS OF SILENCE konzipierte, dachte ich mir: Hier könnte es funktionieren.

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Und schon besitzt das Album eine sozialistische Färbung …

Ich stehe politisch schon immer ziemlich links, und ich finde, dass der Song sehr bewegend ist, wegen des Tons in der Stimme sowie den Geschichten, die hinter dem Lied stehen. Es ist sehr emotional und aufrüttelnd. Es gibt viele Coverversionen des Songs, von Folkrockbands wie Steeleye Span, aber die meisten haben den Text geändert, weil er ihnen zu gewalttätig vorkam. Ich nutze das Original. Das brutale Original.

Angenommen, Martin Gore wäre damals Anfang der 80er-Jahre nicht mit seinem neuen Yamaha CS5-Synthie bei einer Probe aufgetaucht – gibt es eine Parallelwelt, in der du bis heute Folk- oder Rocksongs mit der Gitarre spielen würdest?

Ich denke, es ist sehr unwahrscheinlich, dass wir noch Folk-Platten machen würden – allein schon deshalb, weil mein Gitarrenspiel grauenhaft ist. Martin kam damals mit seinem Synthesizer und es schien mir direkt, als sei er sehr einfach zu bedienen. Auf der Gitarre konnte ich sieben Akkorde, ich wusste: Damit komme ich nicht weit. Beim Synthie dagegen brauchst du zwei Finger und klingst wie Gary Numan. Das war natürlich großartig.

„Ich habe nie behauptet, ein professioneller Musiker zu sein. Niemals.“

Aber Betrug.

Nein, denn ich habe nie behauptet, ein professioneller Musiker zu sein. Niemals. Ich bin gut darin, eine Idee aus meinem Kopf auf ein Stück Vinyl zu bringen.

Beim Stück „The Lamentations Of Jeremiah“ spielt Reed Hays ein sehr professionelles Cello.

Reed ist ein guter Freund von mir, und das Interessante ist, dass er trotz seines herausragenden Cello-Spiels sein Geld mit einer anderen Sache verdient, nämlich mit Kompositionen fürs Fernsehen. Der Track klang ohne sein Cello nach dystopischer Science Fiction, nach „Blade Runner 3“ oder so. Ich sagte zu ihm: „Spiel etwas, das komplett über das Ziel hinausschießt!“ Er kam mit diesem Zeug zurück, und plötzlich klang der Song nicht mehr nach „Blade Runner 3“, plötzlich besaß er etwas sehr Menschliches. Gerade weil ich kein Musiker bin, bin ich komplett ehrfürchtig, wenn ich jemandem begegne, der ein Instrument beherrscht. Zumal Reed meinte, er habe diesen Cello-Part mit nur einem Take aufgenommen. So was haut mich wirklich um.

Der Titel des Stücks bezieht sich auf die Klagelieder des Propheten Jeremia aus dem Alten Testament, was hat es damit auf sich?

Diese Lieder handeln von der Verfolgung der Juden aus der Zeit vor Christi Geburt. Sie erzählen von einer traurigen Geschichte, und als Reed mir seine Performance vorspielte, stimmte sie mich traurig. Sein Part wirkt auf mich wie ein Klagegesang, so kam ich auf diese Bibelstelle. Ich bin kein gläubiger Mensch, aber es gibt in der Bibel einige sehr starke Passagen mit großer poetischer Kraft.

Ein Best-of der Bibel wäre mal was …

… ja, nur die Poesie, ohne den ganzen Mist, da wäre ich dabei.

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Zur Person

Vince Clarke - Songs Of Silence
Vince Clarke – Songs Of Silence

Vince Clark, geboren 1960, ist die zentrale Person, als sich aus diversen Bands aus dem Städtchen Basildon schließlich Depeche Mode finden. Er ist der Songwriter, verlässt die Gruppe aber, bevor sie durch die Decke geht. Zusammen mit Sängerin Alison Moyet gründet er Yazoo. Als sich das Duo 1983 trennt, veröffentlicht er mit „Never Never“ eine Single (als Assembly) mit Feargal Sharkey von den Undertones als Sänger, um wiederum ein Jahr später mit Andy Bell das Duo Erasure zu gründen. Diese kreative Partnerschaft hält länger, ist bis heute aktiv, die Platten von Erasure erreichen weiterhin ein treues Publikum. Mit Martin Gore hat Clarke Anfang der 10er-Jahre zusammengearbeitet, beim Electro-Projekt VCMG.

Hier in SONGS OF SILENCE reinhören:

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Mute/PIAS