Popkolumne, Folge 232

21 Dinge, die ich beim Deichkind-Konzert gelernt habe


Diese erschütternden Aufzeichnungen über ein Deichkind-Konzert wurden uns zugespielt.

Meta-schlaue Performance über die Verfasstheit der Gegenwart – oder doch eher „Trinkhelm auf und durch“? Linus Volkmann hat sich für die Popkolumne auf ein Deichkind-Konzert begeben.

Die Wut Gottes

Ohne euch alle lückenlos über die Zeit beobachtet zu haben, dürfte diese Unterstellung dennoch kaum falsch liegen: Und zwar dass die allermeisten einiges an Konzertbesuchen auf ihrem persönlichen Tachometer haben. Ich möchte sogar soweit gehen, dass viele auf eine regelrechte Konzertroutine zurückgreifen können. Dadurch fühlt man sich ein großes Stück weit sicher beim Ausgehen – dem Nervenkitzel ist dies allerdings nicht gerade zuträglich.

Deshalb nehme ich euch heute mit zu einem der wenigen noch mythisch überwucherten Konzertereignisse der Jetztzeit. Zu der performativen Meta-Bier-Band Deichkind. Hier weiß man doch nicht so recht … Ist das alles bloß Show oder eher ein eskalierendes Hedo-Happening wie in Sodom und Gomorrah, kurz bevor die Städte von der Wut Gottes geschlossen wurden?
Also … Deichkind live, wie geht man da rein, wie kommt man da heil raus? Ich habe es nun bei ihrem Termin in der Festhalle Frankfurt getestet.

Zieht die Riemen eurer Bierhelme enger, wir gehen rein!

Paulas Popwoche: Touch me there in Gelsenkirchen

21 Dinge gelernt beim Deichkind-Konzert

01

Die Faszination und das Kribbeln im Vorfeld liegen über den „regulären“ Live-Auftritten, für die man sonst immer mal Karten hat. Allein schon weil jede:r im Freundeskreis irgendeine krasse Geschichte von einem Deichkind-Konzert zu erzählen weiß: „Ich kenne jemand, der hat unter dieser ‚Bierzitze‘, die die Band ins Publikum rollt, seinen Partner kennengelernt und ein Jahr später haben die im Deichkind-Schlauchboot geheiratet.“ „Mitte der Zehner Jahre war einer von den Tänzern unter diesen Pyramidenhüten safe Kevin Kühnert!“, „Mein Schwager kennt jemand, der hat beide Arme bei denen im Moshpit verloren.“
Urbane Mythen wirken gegen all die Deichkind-Legenden wie die Tagesschau.

02

Wo findet man in seiner zerschlissenen Hipster-Garderobe eigentlich Alkohol- und Exkremente-abweisende Kleidung?

03

Ebenfalls ein Thema: Was will diese oben schon kurz erwähnte Bierzitze konkret von mir? Klar, nichts ist schlimmer als Saufgruppenzwang mit Bundeswehr-Flair, aber wenn sich nachher alle enthemmt miteinander paaren zu Songs wie „Luftbahn“ und das auf einem pulsierenden Spiegel aus Bier, Kleintierstreu, Konfetti und Körperflüssigkeiten … dann möchte man ja auch nicht die eine Person sein, die am Rand steht und DuoLingo macht oder Autonummern aus der Erinnerung aufschreibt. Also Rausch einplanen und für nach der Veranstaltung sicherheitshalber drei Tage Urlaub einreichen. Life Hack: Gelber Schein.

04

We are family – und das bereits in der Straßenbahn. Man benötigt nicht wirklich Menschenkenntnis, um zu wissen, wer hier noch das Ziel Frankfurter Festhalle, also Deichkind, hat. Es sind wilde Kreaturen mit Umland-Charme, um die intendierte Beleidigung mal etwas zu verkleiden. Männer in kurzen Hosen und mit komödiantisch überdimensionierten Sonnenhüten. Ungelenk taumelnd schwitzen sie in die Sixpacks, die sie unter ihre Arme geklemmt haben. Boombox-Träger begleiten diese Gruppen wie der Trompetenschlumpf. Der herbe Geruch eines zusätzlichen Feiertags erfüllt den Sarg auf Schienen … Jetzt hab ich’s: Vatertag zwei! Grundgütiger.

Deichkind im Interview: „Wir sind Künstler und Beobachter, keine Aktivisten“

05

Vor der Halle klart die Dystopie dann aber deutlich auf. Weiblich zu lesende Personen, Pärchen, Normies, auffällig viele Kinder … Deichkind live sind am Ende doch ein Spaß für alle – und nicht bloß promilliger Penis-Stammtisch? Versuche nicht zu weinen vor Erleichterung.

Vorfreude aufs Schlauchboot

06

Überhaupt hat sich einiges getan bei der Band, selbst wenn deren kleinster gemeinsamer Konzert-Nenner auch heute irgendwie noch Exzess ist. Das Hamburger Kollektiv Deichkind scheint sich 2023 seiner Verantwortung bewusster denn je zu sein – und dass eine Veranstaltung eben nicht besonders toll ist, wenn sich vor der Bühne lediglich stapelweise Trinker austoben – und eine physische Aggressivität das Klima fürs ganze Publikum vorgibt. So verbreitet die Band über ihre Social-Media-Kanäle im Vorfeld der Tour Info-Kacheln, die die Besucher:innen für die Sicherheit und vor allem auch den Spaß der anderen Gäste zu sensibilisieren suchen.

07

Am Ende geht es hier also darum, Ekstase und Selbstkontrolle in Eins zu bringen? Challenge accepted denken wir Besucher:innen und gönnen uns erstmal die Bierstände. Die Sauf-Schlangen in der Festhalle machen sich dabei länger aus als bei den beliebtesten Attraktionen in Disneyland.

08

Deichkind-Konzerte haben auch was von rustikalen Fressanfällen. Mitternacht zu allem bereit vor’m Kühlschrank stehen, wenn die berüchtigten „Munchies“ einsetzen (der Heißhunger nach dem Kiffen). Es lebe die Brotzeit. Nirgends so einen Absatz dick belegter Klappbrote gesehen wie bei diesem Konzert hier. Grundlage schaffen! Vesper auffüllen! Du hast noch Remoulade im Haar!

09

Auch wenn die Bands es nicht gern hören: An den eigenen Merch-Käufen muss gespart werden. Die noch größer ausfallenden XXL-Lappen, die einem als Shirts im Rausch der Veranstaltung noch modisch erschienen, bleiben heute auf dem Haken. Dafür gibt es auf die Deichkind-Trinkbecher drei Euro Pfand – und am Schluss – man weiß es jetzt schon – wird man zu schwach sein, seine Münzen wieder auszulösen. Dafür redet man sich den Plastikschrott als fantastische Devotionalie mit immensem Erinnerungswert schön. Das darf Greta Thunberg natürlich nie erfahren!

Bude voll People: So sah es bei Deichkind live in der Berliner Wuhlheide aus

10

Musik gibt’s ja auch noch! Den Abend eröffnet VJ Wasted. Klingt fancy ist aber nur irgendwas zwischen Person und Playlist, die ein paar fetzige YouTube-Videos abspielt. Beyonce, Rihanna, Britney Spears … sehr viele weibliche Acts, bis dann endlich der Übergang zum Hauptact naht. Der Reißverschlusssong, der zwischen Deichkind und VJ Wasted vermittelt, ist die dramatische Powerballade „Total Eclipse Of A Heart“ von Bonnie Tyler.

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11

Die Bühne findet sich hinter einem riesigen Vorhang verborgen, im Stile des chinesischen Schattentheaters sieht man dahinter aber bereits die Band als übergroße Silhouetten agieren. Die Spannung steigt, der Vorhang bleibt, ich ertappe mich beim Blick zur Uhr. Macht jetzt auf! Nichts. Prinzip Lustaufschub, oder was? Das Deichkind-Vorspiel – eine Lektion in Demut. Dann endlich, piffpaffpuff!, die Bühne ist entblättert. Die Show bricht herein!

12

Wenn ich in Abschnitt 11 Deichkind als „Band“ bezeichnet habe, mutet das ungefähr so trennscharf an, wie einen Emu als Vögelchen zu bezeichnen. Also nicht komplett falsch aber irgendwie doch. Deichkind sind live ein gutes Dutzend Tänzer, Rapper, Akteure. Ein Ensemble, eine Show … das hier ist ein Musical durch die Hintertür.

13

Nach einem der ersten Lieder taucht die Ansprache der sozialen Medien noch mal auf. Eine Durchsage ohne Beats: „Seht euch um, schaut mal, wer da neben euch steht, begrüßt euch, achtet aufeinander“. Kleine Geste der Achtsamkeit? Vielleicht. Auf die Stimmung hat dieser Moment meinem Eindruck nach allerdings einen sehr positiven Effekt. Das Konzert als Kollektiverlebnis, bestenfalls als gemeinsame Utopie. Statt von Sachbeschädigung träume auch ich plötzlich von einem neuen Miteinander. Kein Scheiß!

14

Was eine Show! Dass hinter dem schielenden Stumpfsinn von Slogans wie „Hört ihr die Signale? Die Saufsignale!“ bei Deichkind eine unglaublich elaborierte Welt steckt, weiß eigentlich jede:r. Doch diese Verdichtung beziehungsweise Vergrößerung einer Hallenbühne macht das noch mal extrem sichtbar. Anmutungen des Künstlers Mark Rothko ziehen sich durch einige Bühnenbilder, überhaupt glaubt man oft, hier auf eine zu wuseligem Leben erwachte Vogue-Modestrecke zu blicken. Und wenn in Zeitlupe auf dem elektrischen Bullen in Form einer Gucci-Handtasche geritten wird … mit dieser Symbolik könnte man einen Jahrgang Cultural-Studies-Abschlussarbeiten beschäftigen. Dazu kommen aber auch immer wieder gegenkulturelle Insider, wenn beispielsweise ein „DK“-Kürzel auftaucht und sich dabei an das Logo der amerikanischen Anarchopunks der Dead Kennedys anlehnt. Der postmoderne Zirkus ist in der Stadt.

Das sind die 50 besten Punk-Alben aller Zeiten

15

Jemand mit einem Sechser-Bierbecherträger stolpert an mir vorbei, ein wenig von seinen Getränken benetzt meine Gamaschen. Person entschuldigt sich aufwendig. Deichkind-Konzert bizarr!

16

Der immense Hall, den die Wände der Mehrzweckhalle dem Live-Sound untermischt, macht es tatsächlich schwer, die Stücke auseinanderzuhalten. Vibrations- statt Musikgenuss.

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Die Setlist vermittelt zwischen den Epochen und Hits der Band, das aktuelle Album NEUES VOM DAUERZUSTAND bekommt ebenfalls seinen Raum. Von „Lecko Mio“ bis zu „Kids in meinem Alter“. Wobei etliche Klassiker in Update-Versionen auftauchen, eine Heliumstimme verabreicht Songs wie „Bück dich hoch“ einen ziemlichen Micky-Maus-Swag, während auf der Bühne eine unglaublich schöne Bürostuhl-Choreo gefahren wird.

18

Das Fass und das Schlauchboot werden auch 2023 noch durch beziehungsweise über die Menge gefahren. Die Bierzitze dagegen scheint dagegen in Rente, in Quarantäne oder zur Hölle gefahren. (Oder wurde vor mir verborgen wegen meiner markanten Zivibullen-Aura).

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Auf dem Fass wird eine Fahne geschwenkt. Aufschrift: Kein Bier für Nazis.

20

Irgendwann läuft „The Power Of Love“ von Frankie Goes To Hollywood. Zugabe ist „Remmidemmi“.

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Bei allem simulierten Chaos lässt die Live-Inszenierung, deren Musik ja vom Band kommt, wenig Platz für spontane Einlagen. Erst als zum Schluss der Cream-Song „White Room“ kommt, fallen die Pyramidenhüte, die komischen Brillen und riesige Helme. Das durchgetaktete System von Deichkind wird nun endlich mal durchlässig. Das Ensemble tanzt Ringelreien, lacht, umarmt sich, ist erschöpft, sieht erleichtert aus. Irgendwie schön. Irgendwie verdient.

Denn Ekstase und Selbstkontrolle muss man erstmal so eng aneinanderlöten, wie dieser Act das heute hinbekommen hat.

*Vielen Dank für die Impulse und Fotos von Katharina Schmidt

Faszination Erobique oder: Die Sache mit der Kontaktlinse – Linus' Popkolumne

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