Popkolumne, Folge 130

Zwischen Nudelvorrat & FOMO – Paulas Popwoche im Überblick


Paula Irmschler über zwei schöne Festivals, Halsey, Mila Jam, Lil Nas X and many more.

Also, ich war ja neulich wieder zelten, falls ich das nicht schon erwähnt habe. Bei Festival 1. Bei Festival 2 war ich dann in einem Hotel (weil ich eine Lesung hatte, da muss man dann nicht zelten) und was soll ich sagen: Wie geil sind Festivals? Ich hatte es wirklich komplett vergessen. Beziehungsweise war ich teilweise auch auf den falschen.

Man merkt das ganz gut an der Stimmung. Bei Festivals wie Hurricane, Highfield, Rock amimleckmichamarsch herrscht von vornherein schon diese aggressive Grundstimmung, weil alle schon seit dem Ticketkauf wissen, dass sie verarscht werden: Hier rein, Taschenkontrolle, da Zelt, dort Bier, irgendwo Bühne, dazwischen Scheißdreckshops und dann wird sich dort sinnlos den ganzen Tag hin- und hergeschoben, bis man ins Quechua fällt und am nächsten Tag wieder von vorn. Nirgendwo kann man es sich mal schön machen, sich unterhalten, sich kennenlernen oder chillen.

Wie geil es auf dem Plan:et C am vorletzten Wochenende hingegen war! Die kleinere Ausgabe des Fusion Festivals war einfach nur lieb. Das Gelände ist irre schön und dort, wo es auf anderen Festivals normalerweise heißt: VERSCHWINDE HIER, DU UNWÜRDIGES STÜCK SCHEISSE, HIER IST VIP-BEREICH DER MEDIENARMBANDWICHSER (Offenlegung: Ja, auch ich war schon Medienarmbandwichser), heißt es dort: Komm her, wir chillen hier alle und außerdem ist es hundertmal schöner und bunter und besonderer. Man kann überall sein und nirgendwo und sich vertun. Vertun!!! So sollte das sein. Tage auf dem Fusiongelände sind viel länger und weiter als auf jedem anderen Festival. Liebes Tagebuch, am besten hat mir das mit den Lichtern nachts gefallen. Dass das mit den PCR-Tests, die man nach Anreise machen musste, nicht ganz so reibungslos verlief, wie erhofft (man musste bis zu 24 Stunden auf die Auswertung warten, wir waren auch am Freitag angereist und sind erst Samstag aufs Gelände gekommen) war wegen diesen Annehmlichkeiten auch halb so schlimm, niemand hat irgendwas kaputt gemacht, sondern es gab ein riesiges Gejubel, sobald mal wieder jemand reinkam.

Paar Tage später war ich dann nur paar Felder vom Fusiongelände entfernt auf dem Immergut Festival, auf dem ich auch noch nie zuvor gewesen war. Wie süß es ist! Und im Gegensatz zur Fusion eher ein Trinkerfestival, was mir jetzt nicht ungelegen kam. Der Altersdurchschnitt passte auch gut, niemand ist dort besonders aufgeregt gewesen, also kein Stress. Da hat das mit dem Hotel gut gepasst und wir haben uns am Nachmittag im Neustrelitzer Fischerhof mit Backfisch XL und Grapefruit-Radler vollgestopft und life was good. Es ist wirklich alles viel geiler als noch mit Anfang 20. Die Bands waren gut oder okay. Neben Blond und Sorry 3000 war das absolute Highlight die ukrainische Rapperin Alyona Alyona. Ansonsten gab es auch wie so oft bei Indiefestivals diese durchschnittlichen Männerbands, aber ich will keine Namen nennen. Bei Tocotronic spätestens hatte ich wirklich komplett Corona vergessen. Es war so normal mit den Leuten.

Aber hier: Alyona Alyona.

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Bei einer der vielen Bahnfahrten habe ich mal in die ungehörten Podcastfolgen in meiner Spotify-Bibliothek reingeguckt und siehe da: Die Festivalfolge vom ME-Podcast „Music Sounds Better With ME“ (RIP) mit Festivaloberexperte Daniel Koch ploppte auf. Ich find seine Innenansichten über die Entwicklungen vieler großen Festivals sehr spannend, gerade was das Thema Kommerzialisierung angeht und liebe, wie er Vieles was für die meisten Indieleute schon längst durch ist, verteidigt. Vor allem in Anbetracht dessen, dass die Folge von 2019 ist, fragt man sich natürlich, was für einen Impact die Pandemie auf die Festivalkultur haben wird und ob die Tradition des Festivalhoppings, wie auch Daniel es betrieben hat, noch mal zurückkommt. Ich hoffe es und wäre dabei!

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Apropos Bahnfahrt: Bleib stabil, GDL!

 Nächstes Thema: Lied der Woche

Halseys „I am not a woman, I’m a god“ lockt mit dem Titel schön auf eine falsche Fährte. Ich dachte erst, es kommt jetzt so eine überbordende Weiblichkeitsinterpretation, vor allem, weil das neue Album „If I Can’t Have Love, I Want Power“ ein Konzeptalbum über Schwangerschaft ist. Aber genau dieses Absolute, die Überhöhungen scheinen Halsey zu nerven: entweder Madonna oder Hure, nichts dazwischen, nichts daneben. Stattdessen ist „I am not a women, I’m a god“ eine Auseinandersetzung mit den Zuschreibungen gegenüber Menschen, die gebären können: „I am not a woman, I’m a god / I am not a martyr, I’m a problem / I am not a legend, I’m a fraud”“. Keine Girlpowerhymne, aber trotzdem mitgrölbar. Spitze!

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Video der Woche

Unbezweifelbar eine Hymne ist „It’s Raining Them“ von Mila Jam (Cover von The Weather Girls), und zwar eine über nonbinäre Menschen, also Menschen, die sich den gängigen Zuschreibungen „Mann“ und „Frau“ gar nicht, nicht eindeutig oder nicht ständig zuordnen wollen oder können. Also, ich hab geheult, als ich das Video das erste Mal gesehen hab (mittlerweile hab ich wahrscheinlich die dreistellige Zahl an Plays geknackt). So viele schöne Menschen, die man sonst zu selten sieht und die sich feiern, ist einfach überwältigend. Es ist auch so eine passende Ansage: Es regnet „them“, jetzt geht’s los.

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Lil Nas X der Woche

Und weiter geht’s mit der queeren Propaganda. Der Internetmove der Woche kommt wie in jeder bisherigen Woche des Jahres von Lil Nas X. Und zwar: Drake hat das schlimmste und heteroste Albumcover der Welt angekündigt. Ein Haufen schwangere Emoticonfrauen.

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Daraufhin hat Lil Nas X seines angekündigt:

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Gut gegeben. Kurz daraufhin hat er aber das richtige rausgerückt und ich mir zum ersten Mal seit 15 Jahren oder so mal wieder ein Fan-Bildschirmbild auf dem Handy eingestellt. WIE GEIL IST ES BITTE?

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Apropos Kleidung

Die Überleitung ist wild. Aber hier habe ich momentan einen Anzug im Zimmer hängen und ich finde es so geil, weil mir aufgefallen ist, dass ich wirklich sehr ungern Kleider trage, aber immer gedacht habe, ich müsste es, wegen dieser Weiblichkeitschallenge (was aus sich machen, Kurven betonen, bäääh), und ich aber echt immer nur einen Anzug wollte, aber das so lange als Verkleiden galt oder als androgyn oder als Crossdressing oder irgendein besonderes Statement zu sein hatte und ich mir aber jetzt denke: Es scheint einfach an der Zeit zu sein, wo man einen Anzug tragen kann und das ist dann nur das: ein Anzug, in dem man geil aussieht.

Charlie Watts von den Rolling Stones, ca. 1975

Es hat sich was verändert. Ich muss jedenfalls diesen Anzug tragen, weil ich zu einer Hochzeit muss. Es gibt nämlich einen sogenannten Heiratsboom. Und da ist mir aufgefallen, dass es zwei Strömungen nach dem vermeintlichen Ende der Pandemie (zumindest des Ausnahmezustandes) gibt: Einmal FOMO und einmal Rückzug. Hier Nudelvorrat mit Schatz anlegen, da Komasaufen bei Großveranstaltungen. Bei den einen, erst das eine, dann das andere, bei manchen beides. Bin Team beides.

Jedenfalls, Anzug, Anzug, da war noch was: Charlie Watts ist gestorben. Und obwohl ich kein Rolling-Stones-Fan bin, faszinierten mich stets diese lieben Heinis, die schon als ich ein Minikind war, gesagt wurde, sie seien Rockopas und man hatte Angst, dass sie eines Tages sterben. Unfassbar, dass das wirklich passieren kann. Und was war Charlie Watts? Der Chef der schönen Anzüge. Ich übernehme.

Charlie Watts im Jahr 2005
Newcomer*innen 2021: 17 neue deutschsprachige Acts, die Ihr kennen solltet

Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte im Überblick.

Mark and Colleen Hayward Redferns
Brian Rasic Getty Images
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