Kritik

„Das letzte Wort” (Staffel 1) bei Netflix: Anke Engelke holt den Punk auf den Friedhof


Sterben muss keine traurige Angelegenheit sein. In dem neuen Netflix-Format „Das letzte Wort“ begleitet Anke Engelke als Trauerrednerin Hinterbliebene in schweren Zeiten. Ihr eigenes Leben hat sie dagegen weitaus weniger im Griff. Eine Dramedy-Serie, die nur so vor schwarzem Humor strotzt.

Deutsche Begräbnisse sind trist und steif, die Bürokratie der Friedhofsverwaltungen streng. Während in anderen Kulturen getanzt und das Leben gefeiert wird, gilt es an deutschen Gräbern, Pietät und Ruhe zu bewahren. Es darf geweint werden – aber bitte leise! Die festgefahrenen Strukturen und das heuchlerische Getue bringen Witwe Karla Fazius, gespielt von Anke Engelke, vollends aus der Fassung. Sie beschließt, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Mitten auf der Beerdigung ihres eigenen Mannes. Hier geht wirklich der Punk ab.

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Von Toten zu neuem Leben erweckt

Bis vor Kurzem schien alles normal im Hause Fazius: 25 Jahre glücklich verheiratet, ein pubertierender Sohn und eine selbstständige Tochter. Doch der Tod von Karlas Ehemann Stefan (Johannes Winkler) donnert wie eine Abrissbirne in ihr Leben. Geheimnisse tauchen auf, finanzielle Schieflagen reißen ein mittelschweres Loch in die Haushaltskasse und Sohn Tonio (Juri Winkler) wird zu allem Überfluss von den eigenen Hormonen herausgefordert. Während sich Tochter Judith (Nina Gummich) alle Mühe gibt, ein bisschen Normalität in den Alltag zu bringen, wagt Karla als Trauerrednerin einen Neuanfang. Wir halten also fest: Trauerbewältigung im Kreis der Familie ist nicht immer eine emotionale Stütze, wie die Ausgangssituation der gut beobachteten Dramedy beweist.

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Ein weiterer spannender Charakter kommt mit Bestatter Borowski (Thorsten Merten) dazu. Der ist für die verpatzte Beerdigung von Karlas Mann verantwortlich und muss sich fortan mit ihren eigenwilligen Ansichten und entwaffnenden Ehrlichkeit auseinandersetzen. Für sein finanziell schlecht laufendes Geschäft ein Zugewinn, für seine dahinsiechende Ehe der vermeintliche Todesstoß.

Manchmal muss es wehtun

Dass das Ende erst der Anfang ist, kommt Liebhaber*innen anspruchsvoller Serienkost bekannt vor: Alan Ball zeichnete von 2001 bis 2005 mit „Six Feet Under“ ein tragikomisches Bild der Bestatterfamilie Fisher, die den Tod besser managte als ihr eigenes Leben. Nach gleicher Devise kreiert Serienschöpfer Thorsten Merten in „Das letzte Wort“ ein kaputtes Figurenensemble, das an den Hürden des Alltags zu scheitern droht. Statt klare Fronten zu schaffen, wird um die Probleme herumgeeiert. Schließlich ist der Tod allgegenwärtig und man kann von Glück reden, irgendwie noch am Leben zu sein. Falsche Rücksichtnahme und stille Wut bestimmen die Charaktere rund um Karla und Borowski. Die Gefahr an unterdrückten Gefühlen zu ersticken ist enorm und selbst als Zuschauer*in deutlich nachzufühlen.

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Aus diesem Teufelskreis bricht Karla aus und schert sich fortan wenig um Gepflogenheiten. Sie ist die Punkerin. Trauernden Kund*innen öffnet sie die Augen und schreckt dabei nicht davor zurück, die Verstorbenen auch als Arschloch zu bezeichnen. Wer zu Lebzeiten einen miesen Charakter hatte, behält diesen auch nach dem Tod. Ob mit Brass Band oder im „Union Berlin“-Stil: Der Elan mit dem sie die Begräbnisse arrangiert, erweckt den Wunsch, dass sich Ähnliches wirklich auf deutschen Friedhöfen abspielen könnte. Trotz – oder gerade wegen – der kuriosen Einfälle, bleiben Klischees allerdings nicht aus. Die kranke Mutter, die Karla das Leben zur Hölle macht und zu allem Übel bei ihr einziehen muss, hätte es für die Serie nicht gebraucht. Um die Figuren unausgesprochene Dinge zwischen Karla und Stefan klären zu lassen, wären die Head-Autoren und Regisseure Aron Lehmann und Carlos V. Irmscher außerdem besser nicht in den Fantasy-Bereich abgedriftet.

Unbequeme Wahrheiten

Dennoch muss der Produktion aus dem Hause Pantaleon Films („You Are Wanted“, „Der Geilste Tag“, „100 Dinge“) für diese Serie gedankt werden. Der überaus gut besetzte Cast wandelt in der Serie grazil zwischen Komik und Trauer. Die Ausraster von Juri Winkler, die jedes Elternteil so unterschreiben würde, sorgen im ersten Moment für große Lacher und geben im selben Augenblick die Verletzbarkeit eines unglücklichen Teenies preis. Auch Nina Gummich als Tochter Judith sieht sich als sarkastische Einzelkämpferin, die am Ende nur auf der Suche nach Zuwendung ist. So bleibt „Das letzte Wort“ trotz vieler unbequemer Wahrheiten stets leicht und unterhaltsam. Tragik in ehrlichen Witz umzuwandeln und zu beweisen, dass der Tod keineswegs ein Grund zum Verzweifeln sein muss, gelingt der Besetzung ohne Frage.

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Um einen neuen Meilenstein in der deutschen Serienlandschaft zu setzen, so wie es die US-amerikanischen Vorbilder taten, kommt die Serie aber schlussendlich zu unauffällig um die Ecke. Streckenweise wirkt sie, als ob die Autor*innen mit angezogener Handbremse schrieben und sich nicht trauten, mutiger zu werden. Im Gegensatz zu „Biohackers“, bei dem sich die Realität an der Fiktion bedient, oder dem treibenden Club-Thriller „Beat“, berücksichtigt jede der sechs Folgen des Netflix-Serienstarts allerdings eine oft vergessene und wichtige Tatsache: Das Leben ist nicht vollgestopft mit Spannung, aber dafür mit ausreichend beschissenen Momenten. Es sind unbequeme Wahrheiten wie diese, die am Ende immerhin ein Schmunzeln hinterlassen.

Staffel 1 von „Das letzte Wort“ ist ab 17. September 2020 bei Netflix im Stream verfügbar. Ob es eine Fortsetzung geben wird, ist noch nicht bekannt.

Netflix, Frederic Batier
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