Porträt

Gladys Bentley: Blues-Star, Harlem-Renaissance-Ikone, LGBTQ*-Pionierin


Sie war eine von Harlems schillernden lesbischen Persönlichkeiten und trat ausschließlich im Smoking und Zylinder auf. Spotlight an für Gladys Bentley.

Seit 105 Jahren besitzen Frauen in Deutschland das Wahlrecht, seit 40 Jahren ist es ihnen erlaubt, ein eigenes Konto zu eröffnen, seit 26 Jahren ist Vergewaltigung in der Ehe verboten und vor vier Jahren wurde der Grundsatz „Nein heißt Nein“ gegen sexuelle Belästigung im Strafgesetzbuch aufgenommen. Fortschritt? Jein. Was progressiv klingt, ist tatsächlich ein wahrlich kleiner Nenner eines jahrhundertelangen Kampfes. Am 08. März jährt sich der Internationale Weltfrauentag, oder besser gesagt Feministischer Kampftag – und noch immer müssen sich Frauen weltweit für ihre Gleichberechtigung und Anerkennung einsetzen. Gender Pay Gap, weibliche Altersarmut sowie sexuelle Belästigung und Missbrauch gehören für die meisten Frauen nach wie vor zum Alltag. Und das im Jahr 2023!

Anstatt sich jedoch der Wut und Frustration hinzugeben, möchte die Autorin dieses Textes den Monat im Zeichen der Frau stattdessen dafür nutzen, auf all die Pionierinnen aufmerksam zu machen, die die Welt verändert haben – und in Geschichtsbüchern dennoch häufig nicht vorkommen. Willkommen zu der neuen ME-Rubrik „FLINTA*, die mit ihrer Kunst die Welt verändert haben“. Ihr habt noch nie etwas von FLINTA* gehört? No worries: Der Begriff ist relativ neu und bezeichnet alle weiblich gelesenen Personen, die im Patriarchat diskriminiert werden – somit werden darunter nicht nur heterosexuelle cis-Frauen, sondern auch homo- oder bisexuelle, intersexuelle und nicht-binäre Frauen, sowie Trans- und agender-Personen miteingeschlossen.

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Im Portrait: Gladys Bentley – Blues-Star, Harlem-Renaissance-Ikone, LGBTQ*-Pionierin

Gladys Bentley gehört zu jenen historischen Personen, bei der man sich nach der Recherche unmittelbar fragt, warum man vorher noch nie etwas von ihr gehört hat. Ihre Errungenschaften waren bahnbrechend, ihre Biographie tragisch. Und dennoch wird sie noch immer wie eine Randfigur in der Geschichte behandelt. Dabei war Gladys Bentley eine der erfolgreichsten Blues-Musikerinnen und Pianistinnen zur Zeit der Harlem Renaissance und die berühmteste lesbische Entertainerin der 1930er-Jahre. Mit ihren anrüchigen Performances und ihrem maskulinem Stil schaffte sie es fast schon spielerisch Grenzen von Gender und Sexualität zu überwinden. Doch auf ihre ungezügelte Freiheit folgte letztendlich die Entfremdung von ihrer wahren Identität – ein tragisches Ende für eine schillernde Persönlichkeit.

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Ihre Homosexualität sollte von Ärzten „geheilt“ werden

Gladys Alberta Bentley wird am 12. August 1907 als ältestes von vier Kindern und Tochter von dem Lagerarbeiter George L. Bentley und seiner aus Trinidad stammenden Ehefrau Mary Mote geboren und wächst in Philadelphia auf. Während ihrer gesamten Kindheit fühlt sich Gladys in ihrer Familie unerwünscht – in einem Interview erzählt sie später, ihre Mutter habe sich so sehr nach einem Sohn gesehnt, dass sie sich nach der Geburt geweigert hätte, ihre Tochter zu berühren. Schon in jungen Jahren zieht sie am liebsten die Anzüge ihrer jüngeren Brüder an und entdeckt früh, dass sie sich zu Frauen hingezogen fühlt – auch wenn sie dies zunächst nicht ganz einordnen kann. Ihre Eltern beobachten das Verhalten ihrer Tochter währenddessen mit großem Unbehagen und schleppen sie zu mehreren Ärzten, um sie zu „heilen“. Mit 16 Jahren hält Bentley es zuhause nicht mehr aus und flüchtet im Jahr 1923 nach New York, um sich als Musikerin zu versuchen. Zu diesem Zeitpunkt ist die Harlem Renaissance bereits in vollem Gange.

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In Folge der „Great Migration“ – einer Wanderungsbewegung von mehreren Millionen Afroamerikaner*innen, die aus dem Süden der USA in die nördlichen Industriestädte des Landes zogen – entwickelte sich das New Yorker Viertel Harlem in den 1920er-Jahren zu einem funkelnden Hotspot für afroamerikanische Kulturformen wie Kunst, Musik, Poesie und Literatur. Diese Blütezeit, die in Harlem seinen Anfang nahm, aber weltweit für Aufsehen sorgte, wird heute als Harlem Renaissance bezeichnet. Zur selben Zeit waren die USA von der Prohibition betroffen; dem landesweiten Verbot der Herstellung, des Transports und Verkaufs von Alkohol zwischen 1920 und 1933. Dies führte in Harlem zu einem verstärkten Aufkommen von sogenannten „Speakeasies“ – illegale Kneipen und Clubs, die von kriminellen Banden und hochrangigen Gangstern wie Al Capone betrieben wurden und in denen geschmuggelter Alkohol, Glücksspiel und Prostitution zur Tagesordnung gehörte. Es waren Etablissements, in denen Andersartigkeit belohnt und das Abweichen von der Norm zelebriert wurde: Der perfekte Augenblick für eine queere Außenseiterin wie Gladys Bentley, um auf der Bildfläche zu erscheinen.

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Ihr Markenzeichen: Smoking und Zylinder

Zunächst tritt die noch minderjährige Sängerin bei verschiedenen illegalen privaten Partys auf, doch schon nach kurzer Zeit kann sie einen Gig im bekannten Club „Mad House“ ergattern und wird dort sofort zu einer Sensation. Alsbald spricht sich ihr Talent in ganz New York herum und Gladys Bentley steigt zur Hauptattraktion von Harlems berühmt-berüchtigsten queeren Underground-Club auf – dem „Clam House“. Dort etabliert sie den Look, der später ihr Markenzeichen werden sollte: den obligatorischen Smoking und Zylinder. Mit ihrer bariton-tiefen Stimme interpretiert sie erfolgreiche Bluessongs neu und ergänzt sie mit schlüpfrigen Songtexten, tanzt auf der Bühne oder schlendert durch den Raum und flirtet mit Frauen im Publikum. Ihre einzigartigen Auftritte sprechen sich wie ein Leuchtfeuer herum und ziehen bald auch Gäst*innen außerhalb der Harlem-Community an. Im Jahr 1928 nimmt sie mit dem Musiklabel „Okeh Race Records“ acht Singles auf, im Jahr 1930 hat sie bereits ihre eigene wöchentliche Radio-Show. Kurz darauf startet sie eine landesweite Tournee, spielt unter anderem vor berühmten Persönlichkeiten wie Cary Grant und Barbara Stanwyck. Ab 1933 ist Bentley eine feste Größe in den besten Clubs von New York, darunter „The Cotton Club“ und „The Apollo“ – und kreiert ihre eigene musikalische Revue-Show im bekannten „Ubangi Club“ mit einem 30-köpfigen Ensemble, die allesamt in Drag auftreten. Sie ist auf dem Zenit ihres Erfolgs angekommen.

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Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere lebt Gladys Bentley in einem Luxus-Apartment in der Park Avenue, fährt ein teures Auto und hat eine große Entourage an Diener*innen. Der Presse erzählt sie, dass sie und ihre Liebhaberin standesamtlich geheiratet hätten, die Identität der Frau ist allerdings bis heute unbekannt. Doch gerade als in Bentleys Leben alles gut zu laufen scheint, passiert etwas Unerwartetes: Mit der plötzlichen Aufhebung der Prohibition im Jahr 1933 und der zeitgleichen Weltwirtschaftskrise sinkt die öffentliche Toleranz gegenüber homosexuellen Personen – und damit auch die Popularität des Varieté-Stars. In Folge fehlender Jobs zieht die Bluesmusikerin im Jahr 1937 zu ihrer Mutter nach Los Angeles und schlägt sich mit verschiedenen kleinen Auftritten durch – nunmehr im Kleid, versteht sich. Erst mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wird es für sie wieder einfacher, ihre wahre Identität auszuleben, als zahlreiche Schwulen- und Lesbenclubs an der Westküste eröffnen. In dieser Zeit performt sie unter anderem als Headliner im „Mona’s 440 Club“ – der ersten Lesbenbar in San Francisco.

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Die repressive McCarthy-Ära geht auch an Gladys Bentley nicht spurlos vorbei

Auf den Zweiten Weltkrieg folgt der Kalte Krieg und eine damit einhergehende antikommunistische Hysterie, die sich in einer Welle an repressiver Sozialpolitik manifestiert. Politische Linke, Einwander*innen sowie homosexuelle Personen werden in dieser sogenannten McCarthy-Ära stigmatisiert, verfolgt und mundtot gemacht. Diese politische Entwicklung geht auch an Gladys Bentley nicht spurlos vorbei. Zwar hört sie nicht auf zu touren, wechselt ihren Smoking nun jedoch konsequent gegen Frauenkleider aus. Im Jahr 1952 verfasst sie einen Artikel in der Zeitschrift „Ebony“ mit dem Titel „I am A Woman Again“, in dem sie der Öffentlichkeit erklärt, dass sie sich einer Hormonbehandlung unterzogen habe und nun heterosexuell sei. Kurz darauf heiratet sie den 16 Jahre jüngeren Koch Charles Roberts, der die Hochzeit später jedoch stets dementiert. Im Jahr 1958 hat sie ihren ersten und einzigen Fernsehauftritt in der Show „You Bet Your Life“, wo sie ein Kleid trägt und den Jazz-Hit „Them Their Eyes“ singt. Zwei Jahre später stirbt Gladys Bentley im Alter von nur 52 Jahren an den Folgen einer Lungenentzündung – kurz bevor sie ihre Ausbildung zur christlichen Pastorin abschließen konnte.

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Gladys Bentley gilt als eine von Harlems schillernden Persönlichkeiten, eine Königin der Nacht. Mit ihren gender-bending Auftritten war sie nicht nur eine Attraktion – sie ebnete damit auch den Weg für zahlreiche LGBTQ*-Pionier*innen, die nach ihr kommen sollten. Ihre Songtexte waren kritisch; sie sang von sexueller Befreiung und dem Kampf gegen das Patriarchat. Ihre Furchtlosigkeit und ihr Freiheitssinn machten sie zu einer der bekanntesten Entertainerinnen der 1920er- und 1930er-Jahre. Somit ist es umso tragischer, dass sie ihr Leben nicht in Freiheit beenden konnte. Doch wie Gladys Bentley selbst einmal sagte: „Ich habe mir die Auszeichnung verdient, die erste und in einigen Fällen die einzige Performerin mit meiner Hautfarbe zu sein, die in den besten Glitzer-Lokalen auftritt. Ich bin immer noch ein Star.“

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Dieser Text erschien zum ersten Mal im März 2021 auf musikexpress.de und wurde nun aktualisiert.

Wikimedia Commons Collection of the Smithsonian National Museum of African American History and Culture via New York Times