Popkolumne, Folge 211

„Ja, das ist mein eigenes Schwert!“: Warum Charlotte Brandi TikTok hasst – und Linus Volkmann The Screenshots und Wet Leg liebt


Mit dem Langschwert in die Charts, auf Kölsch zurück in den Popbetrieb und im Nachthemd zu den Grammys? In unserer neuen Pop-Kolumne blickt Linus Volkmann auf eine ereignisreiche Woche zurück – und spricht unter anderem mit der Drachentöterin Charlotte Brandi.

Foto: Annika Weertz

Ich erinnere mich noch gut an meine erste Begegnung mit der Musikerin und Performerin Charlotte Brandi. Es war backstage auf einem Kongress namens „Operation Ton“ in Hamburg – sie teufelte gerade auf eine anwesende Vertreterin von TikTok ein. Vorher hatte Brandi schon auf dem Podium keinen Zweifel daran gelassen, wie ätzend der aktuell unabwendbare Selbstvermarktungszirkus für Musikschaffende sein kann – und dass Plattformen wie eben TikTok nicht nur ein „User-Interesse bedienen“, sondern dieses eben auch lenken und eine Verkürzung von Songs auf griffige 15-Sekunden-Snippets mit Reichweite belohnten. Ich hatte kurz ein wenig Angst vor Brandi, wie sie da so hinter Humor und anerzogener Höflichkeit zu verbergen suchte, wie pissed sie auf den Social-Media-Realismus war. Die Repräsentantin von TikTok floh in einem unbeobachteten Moment. Verständlich. Schließlich weiß man von Brandi, dass sie Schwerter besitzt (no talk) – und auch bereit ist, diese zu verwenden. Das Cover der neuen Platte sei da nur der augenfälligste Beweis.

Doch Moment! Noch mal einen Schritt zurück, ich bin ja vor allem Journalist und nicht nur Märchenonkel. Daher hier für alle Brandi-unkundigen Leser*innen die Hard Facts zu jener außergewöhnlichen Künstlerin.

Charlotte Brandi :: An den Alptraum

Charlotte Brandi wurde in den Achtziger Jahren irgendwo an der Ruhr zur Welt gebracht. Ihre Eltern spielten zu jener Zeit in Bands – mit teilweise linksalternativem Hintergrund. Die kleine Charlotte sah und hörte sich den ganzen Popstruggle also schon früh an. 2012 erschien ihre erste Platte mit dem Duo Me And My Drummer, das sie mit Matze Prollöchs unterhielt. Sie zogen gemeinsam nach Berlin, trennten sich fünf Jahre später, 2019 erschien Brandis erstes Solo-Album – auf welchem sie wie schon bei Me And My Drummer auf englisch singt. Doch erst mit dem Switch zu deutschen Texten scheint sich ein größeres Augenmerk hin zu ihrem Schwert-Indie zu verschieben. Wikipedia schreibt den Wechsel zur Muttersprache übrigens dem selbst ziemlich großartigen Tristan Brusch zu. Klingt ein bisschen nach: Hinter jeder guten Idee einer Frau steckt ein Mann, der sie ihr zugeflüstert hat. Nun: Von diesem Bild darf man sich getrost verabschieden bei Brandi, denn ihr erstes deutschsprachiges Solo-Album kommt komplett ohne sogenannte cis-Männer aus. Nicht nur vor, sondern auch hinter den Mikros. Ton, Mix und was alles sonst noch dazu beiträgt, dass eine Platte eine Platte wird – alles bewusst in FLINTA*-Hände gegeben.

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Ich persönlich bin nach dem gleichermaßen verletztlichen wie offensiven Stück „Der Ekel“ Fan dieser brandgefährlichen Künstlerin – und freue mich, dass ich zum Albumrelease von AN DEN ALPTRAUM an diesem Freitag (10. Februar 2023 – für alle, die das hier erst in ferner Zukunft lesen) ein Interview mit ihr machen konnte. Please give a warm hand for … Charlotte Brandi!

Es herrscht auf der Platte hinsichtlich der Instrumentierung kein festes Outfit, für jedes Stück scheint eine eigene Vision geschaffen worden. War diese Arbeit so inspiriert, wie sie wirkt – oder hast du dich schinden müssen, weil es keine musikalische „Normalität“ gab, auf die die Songgestaltung zurückfallen konnte?

CHARLOTTE BRANDI: Ich schinde mich grundsätzlich nicht mehr seit dem Aus von Me And My Drummer. Das war mir eine Lehre, dass zuviel Schinderei ein Projekt belastet. Ich bin tatsächlich auf eine Sache stolz, nämlich auf die Tatsache, dass ich ein gesundes, freies Verhältnis zu meinen Einfällen habe und sie gewissermaßen aus der Luft pflücke. Dadurch bin ich den einzelnen Liedern auch auf eine Art ausgeliefert und muss mich dem beugen, was sie in ihrer Einzigartigkeit dann von mir wollen. Aber so funktioniert es für mich am besten.

Nach dem Interview in der Printausgabe des MUSIKEXPRESS mit der Laufnummer 3/23, das Susi Bumms (u.a. The Screenshots) mit dir führte, habe ich mich gefragt: Ist es denn jetzt ein Vorteil, wenn man so eine markige Überschrift für ein Projekt hat („Platte nur mit FLINTA*-Personen!“), weil das Interesse weckt, oder ist es auch wieder doof, weil die Musik hinter dem Aufhänger zurücktritt?

CHARLOTTE BRANDI: Es ist immer ein schmaler Grat, ein Konzeptalbum zu machen. Im besten Fall funktioniert das Konzept dann als trojanisches Pferd, um die musikalische Qualität an die Rezipienten zu bringen. Ich hoffe wirklich sehr, dass mir das mit diesem Album gelungen ist.

Kanntest du eigentlich The Screenshots? Und was für Musik hörst du selbst gerade gern?

CHARLOTTE BRANDI: Oh! Nein! Kannte ich noch nicht, höre ich jetzt gerade… nicht übel! Gefällt mir, deren Themen beschäftigen mich auch und ich mag es, wenn Musik frisch klingt. Ich selbst höre aber eigentlich nie zeitgenössische deutschsprachige Musik, eher leicht abgehangene amerikanische Indieacts, Wye Oak, Angel Olsen, Kevin Morby, sowas. Habe vor ein paar Tagen eine norwegische Band namens Valkyrien Allstars entdeckt. Als Kind habe ich viel Folklore gehört und bin ein richtiger Nerd, was das angeht. Ich liebe zur Zeit georgische traditionelle Musik, weil die Männer da wie Tauben singen. Irish Folk sowieso und auch polnische Acts – mein alltime favorite Band heißt Warsaw Village Band. Dronige Folklore mit Tendenz zum Mittelaltersound. Nicht gerade hip, tut mir leid.

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Aufgrund des textlich sehr kenntlichen Vorabstücks „Der Ekel“ dachte ich, ah, die Poesie von Brandi, die kann ich gut dechiffrieren. In Anbetracht des Albums muss ich das allerdings revidieren. Vieles bleibt geheimnisvoll und will vermutlich gar nicht 1:1 aufgelöst werden. Dennoch die Frage, was meint das Gegensatzpaar „Auge oder Zahn?“ in „Meine Hunde“?

CHARLOTTE BRANDI: Das ist eine biblische Metapher, glaube ich. In dem Lied geht es um eine frisch geendete Liebesgeschichte und um die Diskrepanz zwischen den Achsen Neuanfang, frisches, weißes Blatt sozusagen, was ja etwas Positives ist und dann aber auch um den inneren Hofhund, der zu bellen anfängt, wenn die Fantasie den Ex plötzlich wieder zu stark verklärt. Das ist ein fragiler Prozess, man muss sich zusammenreißen, um von jemandem wirklich loszukommen, aber zu hart will man ja der gemeinsamen Geschichte gegenüber auch nicht sein und das birgt knallharte Rückfallgefahren.

Auf dem Podium in Hamburg hast du dich nicht ausschließlich begeistert geäußert darüber, wie man die eigene Musik/Person konstant in den sozialen Medien hoch halten muss. Nun erscheint dein neues Album AN DEN ALPTRAUM. Worauf können wir denn in der (im Rap sogenannten) „Promo-Phase“ besonders achten bei dir?

CHARLOTTE BRANDI: Schöne Frage – ich wünsche mir mehr Bewusstsein für die immer schwieriger werdenden Verhältnisse von uns Musiker*innen. Meine Qualität liegt klar in der musikalischen Sprache, nicht so sehr im Influencertum und da spreche ich jetzt einfach mal für das Gros meiner befreundeten Kolleg*innen. Am wirkungsstärksten ist es einfach nach wie vor, wenn Leute zu meinen Shows erscheinen und man zusammen das erschafft, was die digitale Welt halt nicht erzeugen kann, nämlich ein gemeinsames Live-Erlebnis mit allen Fehlern, potenziellen Enttäuschungen, aber auch eben mit magischen Momenten, die nur Menschen im selben Raum erleben können. Und ihr könnt gerne mein Album kaufen, wenn es euch gefällt – Streaming ist nicht lukrativ für die Musik, so bequem es auch sein mag.

Charlotte Brandi – AN DEN ALPTRAUM (VÖ 10.02. / Listenrecords / Broken Silence)

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The Screenshots / Foto: Nicolas Epe

Nerds in Mundart: The Screenshots

Eben habe ich schon erwähnt, dass für die Musikexpress-Printausgabe Susi Bumms ein (weit ausführlicheres) Interview mit Charlotte Brandi geführt hat. Lasst euch doch einmal von einer älteren Person zu einem sogenannten „Zeitschriftenladen“ geleiten und ersteht mit eurer analogen Münzsammlung ein solches Exemplar – bedruckt auf Papier. Ihr werdet staunen, wie wir vor dem Internet gelebt (und vor allem gelesen) haben. Die Band von jener Susi Bumms jedenfalls heißt The Screenshots – und hat schon seit einiger Zeit nichts mehr veröffentlicht.

Die damit einhergehende Enttäuschung endet nun hier und jetzt. An diesem Freitag erscheint nämlich ein neuer Song. Und wo Brandi mit ihrer aktuellen Platte auf Deutsch umgeschwenkt ist, sind The Screenshots schon einen Schritt weiter. Es ist ihr erstes Stück op kölsch: „Die Liebe weiß nit wo se hinfährt“. Klingt schräg? Klar. Aber hierbei handelt sich nicht um einen „Gag-Song“, sondern um „eine aufrichtige Ballade, die von der Liebe, der Einsamkeit und ein kleines bisschen eben auch von Köln erzählt“. So zumindest weist es die Band selbst aus.

Für mich ist es mitunter schwierig, mich auf den schwankenden doppelten Boden der drei hochinteressanten Knalltüten einzulassen. Kann man sich den betont unironischen Momenten wirklich hingeben, oder kommt am Ende doch jemand und ruft „April, April!“, während man selbst peinlicherweise schon am Heulen ist? Der Song ist nämlich großartig. Ich glaube, die Band weiß selbst nicht hundert Prozent genau, wo ihr Spaß zu Ende ist. Dass das natürlich auch den Reiz des Projekts ausmacht, muss sicher nicht extra betont werden.

Seit dem 10. Februar könnt ihr das Stück überall hören und sehen:

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Menschen, denen es gut geht? Was stimmt nicht mit euch! – Kapa Tult

Hier noch eine weitere Empfehlung für alle friends von deutschsprachigen Superhits. Kennt ihr schon Kapa Tult? Letztes Jahr erschien die Debüt-EP mit dem äußerst nachvollziehbaren Titel „Meinten Sie Katapult?“, nun schritt die Zeit voran und es wird wieder etwas Neues erscheinen, oder wie wir Popjournos mit unserer deformierten Sprache sagen würden: „Diese Truppe hat frische Tunes in der Pipeline“. Doch das ist Blütenstaub von morgen. Hier erstmal das fantastische Vorab-Stück „Menschen (denen es gut geht)“:

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„Sind das eigentlich Nachthemden, die ihr auf dem roten Teppich tragt?“ – Wet Leg

Eigentlich könnte ich stolz sein, dass sich in der von mir betreuten Heftstrecke (Auftakt) des gedruckten Musikexpress letztes Jahr Wet Leg wiederfanden. Allerdings hatte ich da eher das Glück, dass mir die ME-Social-Media-Redakteurin dieses „Thema“ (entmenschter Musikindustrie-Sprech) angeboten hatte. Erst im Nachgang ging mir auf, was für eine relevante Platte (selbstbetitelt) sich da verfangen hatte. Unser Heft haben dann offensichtlich auch die eifrigen Musikexpress-Leser*innen in der Grammy-Jury entdeckt. Und so konnte man sich mit dieser wirklich außergewöhnlichen Band freuen über ihr großes Abräumen bei der Award-Show in dieser Woche. Dazu habe ich ein Interview rausgesucht (siehe unten), weil es die Band jenseits von ihrer Musik wirklich schön auf den Punkt bringt … ich meine. wie humble und überwältigt kann man denn bitte rüberkommen? Hört noch mehr Wet Leg. Es dürfte die Welt ähnlich weiterbringen, wie das Hören von dem Song „Layla“ sie stets ein wenig schlechter macht. Mit Wet Leg lassen sich also viele der musikalischen Arschloch-Energien ausgleichen. Der Bedarf ist dahingehend ja sehr groß.

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You can watch my fat ass twist, Beyoncé: Paulas Popwoche im Überblick

Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte im Überblick.

Annika Weertz
ME