Popkolumne, Folge 59

Drinnen bleiben, durchdrehen, live gehen: Volkmanns Popwoche macht auch Hausbesuche


In unserer Popkolumne präsentiert Linus Volkmann im Wechsel mit Paula Irmschler die High- und Lowlights der Woche. Welche Künstler*in, welche Platte, welches globale Untergangsszenario lohnt sich (nicht) – und was war sonst noch so los? In der neuen Folge zur KW 13/2020 geht es natürlich um „die Situation“ gerade, betrachtet werden außerdem Milliardäre am Limit, die toxische Freundschaft zwischen einem Hasen und dem Tod – und am Ende wird vom Balkon gewunken. Leckt euch die rau gewaschenen Hände, die neue Popwoche verbreitet sich exponentiell!

LOGBUCH: KALENDERWOCHE 13/2020

Als mein über achtzigjähriger Vater anruft und ziemlich aufgelöst klingt, schwant mir nichts Gutes. Er fragt allerdings: „Hast Du schon Kurzarbeit beantragt? Da gibt’s jetzt ganz viel Geld, sagen die bei n-tv!“

Ach, stimmt, Vater war ja schon immer Risikogruppe, wenn’s um’s Geld geht. Ich beruhige ihn. Als Kolumnist vom Musikexpress sei ich ohnehin auf Rosen gebettet, der Staat würde eher bei mir demnächst noch um ein Darlehen bitten. Diese Antwort übergeht er geflissentlich. Er würde sich „mal bei den Behörden informieren“ – in meinem Namen, versteht sich. Na, hoffe, Olaf Scholz ist gewarnt.

Weitere Corona-Erkenntnisse:

  • Lektion in Selbstbeherrschung: Wer sich dieser Tage schon mal draußen verschluckt hat (Fliege, Pollen, umherfliegendes Laub), kennt es: das röchelnde Abwägen, ob man nun dem Hustenreiz oder der Angst, von Mitmenschen gesteinigt zu werden, nachgeben soll.
  • Ich habe seit #staythefuckhome kein verdammtes Buch gelesen, keine neue Serie geschafft, keine Fremdsprache gelernt. Dank des Drucks der Quarantäne-Optimierten fühlt man sich so auch ohne Infektion bereits als Verlierer der Ereignisse.
  • Teile mir das von Silvester übrig gebliebene Tischfeuerwerk penibel ein. Drei Wochen halte ich noch durch.
  • Bei allem selbstreferentiellen Quatsch, den man jetzt daheim durchlebt: Es gibt immer noch ein Draußen. Unterstützung benötigen gerade auch die Menschen im Lager Moria auf Lesbos.
Webseite der Organisation Lifeline

VIDEO DER WOCHE: LAMPE

Kennt Ihr Lampe? Unpraktische Post-Slacker mit tollen Ideen, sprühendem Pop-Appeal und einem Melancho-Songwriting, als hätte Dirk von Lowtzow sich mit Rainald Grebe auf Lachgas gepaart. Gerade erst haben sie eine Kassette (!) mit ihren schönsten Stücken rausgebracht – unter dem Titel „Viel Potenzial“.

Jetzt aber gibt es auch ein ganz neues Stück, übers Drinnenbleiben, eingespielt hat es das Duo aus Mannheim von Balkon zu Balkon. Ein herziger Song für alle Träumerle in ihren Altbau-WGs und ähnlich liebevoll ausgekleideten Safe-Spaces: „Drinnen bleiben wir“.

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VERLUST DER WOCHE: GABI DELGADO

Zum Tod von Gabi Delgado: Er und die Wirklichkeit – ein Nachruf

Der Sänger von DAF, Gabi Delgado, verstarb am 22.03.2020 in Spanien mit 61 Jahren. Natürlich hatte ich in jungen Jahren in der Dorfdisco auch zu DAFs „Der Mussolini“ getanzt. Besonders prägend für meine Sozialisation erwies sich zudem „Der Räuber und der Prinz“. Dieses schwitzige Gay-Märchen mit klimpernder Instrumentierung erzählt von Männlichkeit abseits von Hetero-Normen. Es hat mich verstört, ich habe es geliebt. Vor wenigen Jahren sah ich DAF noch live. Gabi Delgado wirkte energetisch, übergoss sich immer wieder mit kleinen Wasserflaschen, tropfte und strahlte. Der Typ war noch lange nicht fertig mit Musik, mit allem. Kein tröstlicher Gedanke angesichts seines überraschenden Todes.

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FALTEN DER WOCHE: „GRACE UND FRANKIE“

Man hatte es schon vor dem Einschluss geahnt, das Königreich von Netflix offenbart sich bei längerer Besiedlung als eher unspektakuläre Halde mediokrer Filme und Serien denn einem Nonstop-Vergnügungspark.

Die sechste Staffel „Grace und Frankie“ straft dieses Gefühl des Überdruss‘ ebenfalls nicht Lügen. Dennoch eine verstörende Entdeckung: Beide Hauptdarstellerinnen haben einen Filter über ihren Gesichtern. Man erkennt deutlich digitale Nachbearbeitung, die das Hautbild glätten soll. Während die beiden Männer der Serie ganz regulär mit ihren Falten gezeigt werden. Da so ein blurry Filter im realen Leben fehlt, müssen sich ältere Frauen beim Anschauen der Serie fragen, warum sie selbst so runzelig sind – wenn das doch Jane Fonda und Lily Tomlin sogar jenseits der 80 vermeiden können.

Ergraute Männer dürfen dagegen bei den Schauspielern in einen Spiegel schauen. Motto: So, wie du bist, bist du okay.
Warum das in einer Serie mit Empowerment-Faktor nicht auf für die weiblichen Darsteller gelten darf, erschließt sich mir nicht. Unrealistische Schönheitsideale noch bis Ü80? Fick die Welt doch bitte etwas weniger hart, verdammte Kulturindustrie!

Lily Tomlin (80) in „Grace And Frankie“
Martin Sheen (79) in „Grace And Frankie“

TWEET DER WOCHE: AMAZON

Wer beim Daheimbleiben nicht auf Konsum verzichten möchte, landet schnell bei Amazon. Weltweit wohlgemerkt. Der Konzern heftet sich in seiner eigenen Kommunikation daher selbst bereits das Label an, gerade in diesen Zeiten systemrelevant zu sein. Doch genauso kann man auch von Protesten der Arbeiter lesen, die sich nicht geschützt fühlen – und ein Fundraising zugunsten der angebundenen Logistikbranche seitens Amazon sieht der ein oder andere ebenfalls kritisch. Der Journalist Juri Sternburg hat dies auf Twitter mit einem vielbeachteten Tweet zugespitzt.

MEGA SAMMELBAND DER WOCHE: STUPS & KRÜMEL

Niemand bringt so haarsträubende Ab- und Umwege in seine Comics ein wie der mehrfachbegabte Künstler Fil. Rätselhaften Quatsch machen natürlich viele, nur irgendwie kann man den lustvoll übergeschnappten Plots des Berliners immer gerade so noch folgen. Seine frühen Figuren Stups & Krümel (Ein Hase und der Tod) kommen nun noch mal in einem dicken wie kompakten Sammelband zu Ehren. Erinnert ein wenig an MAD Extra, die in Taschenbüchern auch gern Lieblingszeichner zusammenfassten. Fils Humor besitzt einen ähnlichen Pennälerjoke-Background, ist aber einfach noch toller.

MEME DER WOCHE

GUILTY ODER PLEASURE? (90s-Edition Pt. 2)

FOLGE ZWEI:
AQUA

Die Sache ist ganz einfach: Eine verhaltensauffällige Band aus dem Trash-Kanon der 90er wird noch mal abgecheckt. Geil or fail? Urteilt selbst!
(Und wer in echt abstimmen will, kann das diesen Donnerstag/Freitag in meinen Storys bei Facebook und Instagram tun, @linusvolkmann)

AQUA
HERKUNFT: Dänemark
DISKOGRAPHIE: 3 Alben
ERFOLGE: Dreifach Platin in den USA für das Debüt „Aquarium“
TRIVIA: Die Bandgründung lag noch in den 80er-Jahren, den Welthit „Barbie Girl“ landete die Gruppe erst 1997. Mattel, die Herstellerfirma von Barbie klagte gegen die Band – wegen sexueller Anspielungen im Video des Songs „Barbie Girl“. Die Klage wurde vor Gericht abgewiesen.

PRO: Wie äußerte sich die ehemalige Kolumnistin Julia Lorenz einst zu Aqua? „Fuck Inhalt, wenn die Form so prächtig unterhält“. Genau, das hier ist Hitparadenmusik am Anschlag. Eine Melodie, die Jahrzehnte überdauert und ein Image so grell wie Strobo. „Barbie Girl“ ist die hedonistische Essenz von Feelgood-Plastik-Pop. Einfach ein Monolith.

CONTRA: Ohrwürmer zählen ohnehin schon nicht zum attraktivsten Getier der Musik. Doch was einem diese skandinavische Truppe aus Ballermann-Animateuren da eingepflanzt hat, grenzt schon an Körperverletzung. Debiler Pin-Up-Pop, dessen übermäßiger „Genuss“ einer Lobotomie gleichkommt. #krankmeldung

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Und was sagt Ihr? Sagt es uns auf Facebook oder Linus in seinen Storys.

Für Solidarität und Aktionismus, gegen Plattitüden und Langeweile: Paulas Popwoche im Überblick

Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte im Überblick.

Unser neues Kolumnistenduo: Linus Volkmann und Paula Irmschler, eh partners in crime
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