Popkolumne, Folge 125

Es lebe der Verriss: Strunk, Nena, Kurt Prödel – Volkmanns Popwoche im Überblick (Spezialausgabe)


Linus Volkmann widmet die aktuelle Kolumne dem Verriss. Ein Hoch auf die Null-Sterne-Review. Es geht dabei unter anderem um Heinz Strunk, Kurt Prödel und Nena.

WARUM WIR VERRISSE SO LIEBEN

Lallende Jusos
Einer der schönsten Verrisse, an die ich mich erinnere, stand mal in der „Titanic“. Gleichwohl es sich hierbei um ein Satire-Magazin handelt, präsentiert in den Neunzigern Autor Wiglaf Droste tatsächlich ein Interview mit Campino von den Toten Hosen. Aus dessen schlichter Wir-gegen-die-Spießer-Rhetorik gestaltet er einen fundierten wie hämischen Verriss der öffentlichen Person des mahnenden Campinos. Mit dem bereits vernichtenden Titel „Wenn Jusos lallen“.

Titanic, 1990

Fischvergiftung
Mitte des letzten Jahrzehnts, mitten im großen Amore-Hype um die Wiener Austropop-Männer von Wanda gelangte ein Verriss zu größerem Ruhm, als vermutlich alle wohlwollende Artikel zusammen: Wolfgang Zechner schrieb über „Eine Fischvergiftung namens Wanda“.

Null Sterne
Der Verriss erscheint dabei allein schon deshalb als interessant, weil er die Ausnahme darstellt. Er ist die Abweichung der Norm, die Norm ist die Empfehlung. Liest man beispielsweise eine Musikzeitschrift, stößt man nur in seltenen Fällen auf eine Null-Sterne-Review; jene mit fünf oder sechs Sternchen, oder was halt das Maximum des jeweiligen Rankings ist, sind umso häufiger. Eine Welt voller Kaufempfehlungen stresst – kein Wunder, dass man sich am Gegenteil erfreut. Es kann schließlich nicht alles geil sein. Überdies fühlt sich ein guter Verriss stets an wie eine unterhaltsame Lästerei.

Warum ist er, der Verriss, bei all diesen positiven Attributen dann so selten in einer Besprechungsstrecke? In meiner Arbeit als Redakteur eines Musikmagazins fiel mir vor allem ein Grund dafür auf: Ein Verriss muss besser sein als ein Lob.

Hat sich der/die Rezensent:in nicht wirklich mit einer Platte befasst und keine Ahnung, ob die Musik jetzt besonders gut oder schlecht sind, empfiehlt es sich, lauwarm zu loben. Ohne Überschwang (denn auch dafür bedarf es Argumente), aber vor allem ohne Kritik.

So bringt der gestresste Freizeit- oder Profi-Journo seine Reviews am bequemsten in den Hafen – und muss sich für das meist schmale Salär nicht lange damit aufhalten. Zudem besteht keine Gefahr, dass einem der Text nachher um die Ohren fliegt. Lob läuft durch.

Beim Verriss ist das anders. Um etwas wirklich in den Staub zu kicken, muss man sichtbar machen, dass man Ahnung hat – und dazu empfiehlt es sich eben auch, einfach welche zu haben. Denn wer Heavy Metal für Krach hält oder HipHop für Geplapper, wird niemals einen treffenden Verriss im jeweiligen Genre hinlegen können. Zumal – wie schon gesagt – hier am Ende jedes Wort auf der Goldwaage liegen wird.

Verrisse verlangen Mühe und Akribie: Du kannst einer Band den beschränkten Horizont ihrer Texte und ihres Images noch so eloquent darlegen – wenn du als Namen des Schlagzeugers Schmidt angibst, jener sich aber Schmitt schreibt, stürzt sich die vom Verriss empörte Fanbase darauf und diskreditiert das gesamte Urteil, da du offensichtlich ÜBERHAUPT keine Ahnung von der ganzen Sache hast!

Also: Wer lobt, darf schlampen – wer verreißt, muss ganz genau sein.

Produktjournalismus
Verrisse sind gerade in einer Zeit, in der Kulturjournalismus längst zu Produktjournalismus geworden ist, ein angenehm renitenter Kontrast. Denn wenn jedes Buch, jede Platte, jede Serie super ist – wie es einem manche Blogs, Influencer oder Magazine weismachen möchten – dann ist letztlich auch gar nichts mehr super, sondern alles gleich.

Ein Hoch auf den Verriss. Er reguliert und lästert, er unterhält und richtet. Auch wenn man sich manchmal über ihn ärgert (weil er sich gegen die eigenen Lieblinge richtet), möchte ich ihm Respekt zollen. Ohne ihn wäre das Schreiben und vor allem auch das Lesen über Pop echt öde.

Da hört der Spaß auf
Ein auf einen Satz verdichteter Verriss, mit dem ich einst bei Freund und Feind durchkam, bezog sich übrigens auf die engagierten Rostkehlchen von Feine Sahne Fischfilet und ging so: „Sie sind wirklich die beste hiesige Punkband – wenn bloß die Musik nicht wäre“.

Doch wer verreißt, muss auch verrissen werden. Fair enough. Schließen möchte ich diese kleine Eloge an den Verriss mit einem vernichtenden Urteil zu meiner Textarbeit von einem Leser. Moment… „Verspexter Lila-Laune-Onkel“? Da hört der Spaß natürlich auf!

NUR GETRÄUMT – DER NENA-VERRISS

Man könnte spätestens seit dem jüngsten Strandkorb-Corona-Eklat denken, dass ihre „Fahrt auf Feuerrädern Richtung Zukunft durch die Nacht“ an einem Baum geendet ist.

Doch damit durchdringt man die Persona Nena nicht wirklich. Denn sie ist mit dieser esoterischen Licht-, Liebe- und Lieber-nicht-impfen-Schunkelei nicht vom Weg ab-, sondern endlich bei sich selbst angekommen.

Letztes Jahr konnte der PR-Kollaps noch verhindert werden. Nenas Dank musste dabei nicht nur ihrem Management gelten, sondern vor allem dem unerschütterlichen bundesdeutschen Wohlwollen hinsichtlich „unserer Nena!“. Wobei es einige Male (#Kassel, #Naidoo) sehr knapp war.

Seit dem verregneten Strandkorb-Gate von Berlin-Schönefeld kann man dem zeitlosen NDW-Volksheiligtum nun aber nicht mehr gütig irgendeine Zweideutigkeit unterstellen. Bei aller Textsicherheit von „99 Luftballons“ auf der Betriebsfeier und ab dem dritten Sekt auf Eis: Nena ist weitergezogen, Nena ist fort.

Wer da mitgehen kann und will… schlimm genug. In jedem Fall dürften ihn oder sie an diesem Ort wenig „Nur geträumt“-Boomer-Fun erwarten, sondern vor allem ziemlich schlechte Stimmung. Denn eine solche haben alle Nena-Eklats, auch dieser eine im Autokino, gemeinsam. Nena ist bloß noch genervt und das ist 2021 ihr. Sie kann den Leuchtturm nicht mehr sehen.

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DAS KLEINSTE INTERVIEW DER WOCHE: KURT PRÖDEL ÜBER VERRISSE

Wenn die Musikgruppe The Screenshots vom Rhein die Drei Fragezeichen wären, wäre Kurt Prödel vermutlich Bob Andrews, verantwortlich für Recherchen und Archiv. Aufgeräumt, Understatement, guter Look und alles im Blick haben. Anfang August veröffentlicht er nun eine Solo-Single. Vollzeit-Popkultur-Interessierte kennen und schätzen zudem seine Hörspiele, von denen man ihn schon vor den Screenshots kennen kann. Für diese Kolumne hat er drei Fragen zum Thema Verrisse beantwortet. Nicht nur dafür bin ich dem Mann Kurt Prödel dankbar.

Thema Verrisse, was würdest Du wirklich nicht gern über Deine eigenen Songs lesen?

KURT PRÖDEL: Ich kann mich grundsätzlich an jeder Reaktion erfreuen. Egal ob positiv oder negativ. Das gute an negativen Feedbacks ist, dass man daraus viel mehr neuen Content generieren kann, als aus positiven. Wenn jetzt eine Person in einem Verriss sowas schreiben würde wie „Das klingt wie Fynn Kliemann in sehr sehr schlecht“, dann wäre das zum Beispiel ein cooler Slogan für ein T-Shirt oder ein lustiger Spruch für eine Kaffeetasse.

Du wirkst meist sehr ausgleichend, dennoch: Was würdest Du zuerst in einem Musikmagazin lesen … die Review mit fünf Sternchen oder die mit Null?

KURT PRÖDEL: Ich würde zuerst die 0-Sterne-Review lesen. Da muss schon ein bisschen Wut oder persönliche Enttäuschung mit dabei sein. Und da wird es meistens spannend. Nicht unwahrscheinlich, dass ich mir das Album dann anhöre und es dann aus so einer pseudo-subversiven Antihaltung für ein paar Tage zum besten Album aller Zeiten ernenne.

Über wen/was hast Du Dich öffentlich schon mal negativ geäußert und heute tut es Dir leid? Wieso?

KURT PRÖDEL: Fynn Kliemann. Wenn ich mir sein Schaffen anschaue, fühle ich mich manchmal mega unproduktiv und teilweise auch minderwertig. Also Realtalk! Diese Gefühle hat noch nie eine andere Person in dem Umfang bei mir ausgelöst. Da hab ich mal aus Verzweiflung ein paar Jokes über ihn ins Internet geschrieben und einen Song improvisiert, in dem ich mich bewerbe, bei ihm auf dem Hof zu schuften. Das war aber alles eher so lieb gemeint, kam aber glaub ich ganz anders an. Sorry Fynn!

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VERRISS AM MITMENSCHEN: CHRISTIN NICHOLS ÜBER DAS ÄRGERNIS MANN

„Today I Choose Violence“, die neue Single von Christin Nichols, ist textlich eine Kolportage von Sätzen, die sie selbst schon mal gesagt bekommen hat. Merke: Ein guter Verriss muss einfach nur genau hinschauen. Das lässt das zu verreißende Objekt oft schlechter aussehen, als jede komplex ausgedachte Schmähung.

  • „Denk mal drüber nach, was für Signale du sendest, wenn du dich so anziehst.“
  • „Ich find’s echt mutig, dass du dich mit dem Körper auf die Bühne traust.“
  • „Ich mag, wenn Frauen ein bisschen devot sind… ich bin eben Gentleman der alten Schule“

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DAS NEUE BUCH VON HEINZ STRUNK (VERRISS, SORRY)

Mit „Es ist immer so schön mit dir“ ist bei Rowohlt ein neues Buch vom hochproduktiven Heinz Strunk erschienen.
Die Geschichtensammlung „Das Teemännchen“ stammt aus 2018 und 2019 kam noch die Tagebuch-Persiflage „Nach Notat zu Bett“. Wo andere sich rar machen, ist Strunk fleißig, ehrgeizig, wirkt ein Stück weit besessen. Doch so vielarmig sein Output sein mag, so kurzatmig ist die Motivwelt, die er uns präsentiert.

Und so stellt sich mit „Es ist immer so schön mit dir“ letztlich nur noch die Frage: Welches der vier bis fünf ewig wiederkehrenden Strunk-Themen ist diesmal nach vorne gerückt? Was wird im neuen Buch als Kulisse herhalten für die zu Pop-Literatur umgestalteten Zwangsgedanken des beliebten Krassheits-Autoren Heinz Strunk?


Die Antwort: Es geht um Paarbeziehungen. Wer mit dem Gesamtwerk Strunk vertraut ist, mag sich an seinen zweiten Roman „Die Zunge Europas“ erinnern. Dort steht neben dem unmotivierten Plot, der sich um den Alltag eines Gagschreibers dreht, vor allem ein Pärchen im Mittelpunkt. Wie abgegriffen, lieblos bis hasserfüllt ist ihre Beziehung, fragt der Autor? Die Antwort wie immer bei Strunk: bis zum Anschlag!

Und diese Plot-Hälfte von „Die Zunge Europas“ verdoppelt sich in „Es ist immer so schön mit dir“ zu einem neuen Buch.
Wie eng das düstere Universum des Autoren mittlerweile ist, lässt sich daran bemessen, dass er sich schon in den allerersten Passagen selbst zitiert. In der Hörbuchversion dauert es 49 Sekunden, bis eine bereits von mehreren Protagonisten in unterschiedlichen Büchern benutzte Strunk-Redewendung den bevorstehenden Loop einleitet.

  • „Kann man sich nicht vorstellen, kann sich kein Mensch vorstellen!“
  • Nach 1 Minute 15 dann schon die erste Motiv-Wiederholung. Es geht um das Aufhören des Rauchens – und wie sich der Nicht- vom Nie-Raucher unterscheidet. So zu lesen auch in „Heinz Strunk in Afrika“.

Und so geht es weiter, man kann wirklich fast alles in diesem Patchwork-Werk kennen. Teils ist es einigermaßen kunstvoll neu zusammengesetzt, teils ist es, als wäre Strunk sein eigener Algorithmus, der immer wieder nur dieselben Sprüche neuen Figuren in den Mund und abgründige Gedanken in den Kopf legt.

Die trostlosen Figuren können mangels jeglicher Individualität so natürlich nichts mehr beweisen. Strunk entlarvt mit diesem manischen Mimikry kein einziges festgefahrenes Pärchen, sondern bloß sich selbst. Der Hass auf Menschen, auf sich selbst und natürlich last but bei Strunk really not least auf Frauen dreht sich motivisch und in bekannten Formulierungen im Kreis.

Um es mit einem Versatzstück seiner eigenen Echokammer zu sagen:
„Heinz Strunk? Auserzählt.“

NOCH MEHR VERRISSE? #Beatles #Stones #Oasis #Radiohead und der ganze Rest

In einer Hommage an den Verriss darf natürlich nicht der Verweis fehlen auf: „Der verhasste Klassiker“. So der Titel einer Rubrik in dieser Kolumnenreihe.

Darin wurden bereits die ganz großen Namen in Säure getunkt. Aus Spaß am Verriss genauso wie auch aus Langeweile hinsichtlich der ewigen Kniefälle vor den big names des (männlichen) Pop-Kanons.

Hier ein paar kleine Auszüge:

  • Beatles
    „Kann sich überhaupt noch jemand an diese Kurhaus-Kapelle erinnern?“
  • Rolling Stones
    „Musik als Vertonung von Vorfreude-Tröpfchen, dafür standen die Männer der britischen Gruppe Rolling Stones mit ihrem Steifen.“
  • Radiohead
    „Die fünf Musiker mit der verführerischen Bürokaufmann-Aura zaubern uns einen Sound, der klingt, als würden Käferfressgeräusche digitalisiert.“
  • Arcade Fire
    „Kunsthandwerkliche Sentimental-Mucke für verbeamtete Indie-Spießer, die den ganzen Hipster-Kram erst möglich gemacht haben.“
  • Oasis
    „Wenn man draußen im Hof zwei Brüder zanken hört, macht man einfach das Fenster zu, oder?“
    Bzw.
    „Oasis – das ist Musik für Freizeit-Hools, die gern mal was brüllen, wenn sie nachts aus der Langweilerkneipe ihres Kaffs stolpern – und die privat aber auch gern wandern und träumen.“
  • Red Hot Chili Peppers
    „‘Blood Sugar Sex Magik‘ ist ein zappeliger Oben-Ohne-Tanz für Männer – und für schlechte Mucker, die beweisen, dass man auch mit seinen Instrumenten mansplainen kann.“
  • Sigur Ròs
    „Wer aufgeblasenen Sphären-Pop für ein tiefes musikalisches Erlebnis hält (und ich weiß, das tun viele!), der kann hier lustvoll in die Nassmülltonne von Sigur Ros greifen. Hier ist alles bedeutsam gemeint – und alles doof wie Schwefel.“

 

It’s the end of the world as we know it – and I still feel something: Paulas Popwoche im Überblick

Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte im Überblick.

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