Kolumne

Gedanken zum Gegenwärtig*innen, Folge 8: … W.I.P. (Work In Progress)


Unsere Gegenwart scheint später nun tatsächlich Geschichte zu werden. Zeit also, sich in dieser Kolumne die popkulturelle Gegenwart genau anzugucken. Was passiert. Und wie und warum hängt das alles zusammen? Hier Folge 8.

Drei Beobachtungen:

1. still processing

„Still Processing“ – also „noch nicht verarbeitet“ – heißt der Kultur-Podcast des „New York Times Magazine“. Es ist ein perfekter Name, denn „etwas noch nicht verarbeitet haben“ ist Zeitgeist. Corona, 2020 und dann passiert 2021 schon die nächste Mutation und Flut. Die Gegenwart überschlägt sich in Umbrüchen und Katastrophen. Das Apple-Symbol für „noch nicht verarbeitet“ ist ein Kreis mit Strichen im Farbverlauf von Hellgrau bis Schwarz. Kanye West hatte ihn sich zum Instagram-Profilbild und zum Symbol seiner Prä-DONDA-Album-Ära gemacht. DONDA war ein Album „im Erscheinen“. Dessen Veröffentlichung immer wieder verschoben wurde und dennoch – beziehungsweise genau deswegen – in aller Munde war und ist.

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Kanye war still processing in einem Stadion in Atlanta, in dem er Demo-Listening-Partys abhielt. Er wohnte in diesem Stadion, um an dem Album zu arbeiten, und stellte seinen Stadion-Bedroom auf Instagram, um dessen Abbild wiederum später als Kulisse auf die Bühne des Stadions zu bringen, während er eine weitere Pre-Listening Party abhielt. Der Arbeitsprozess bekam so die größtmögliche Bühne und Konsument*innen die Illusion, daran teilnehmen zu können. Das fertige Album wird zu einem Souvenir dieses Prozesses. Es ist nicht mehr die Kunst an sich, es ist das Merchandising. Charli XCX hat 2020 den Entstehungsprozess von HOW I’M FEELING NOW via Zoom öffentlich „erfahrbar“ gemacht. Immer wieder haderte sie, würde ihr Album bis zum Erscheinungstermin überhaupt fertig werden? (Es wurde.)

Kanye West fühlte sich von Drake gezwungen, DONDA zu releasen

2. ich nehme Euch auf diese Reise mit

Charli XCX und Kanye West haben die Marketingstrategie des Influencer*innen-Business aufgegriffen und zur Kunstform stilisiert. Ja, Marketing ist die Kunst der Gegenwart. Ganz Instagram ist ein Ort, an dem man mitgenommen wird zu Produkten „im Erscheinen“. An deren Anfang immer „das Geheimnis“ steht, „über das jetzt endlich gesprochen werden kann“. Denn es war doch schon immer des Influencers größter Traum, ein Produkt zu erstellen, und nun „nehme ich Euch mit auf die Reise, wie ich das Produkt verwirkliche“.

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Auch bei Büchern greift dieses Narrativ. Die Autorin Ronja von Rönne lässt sich neben einem Spiegel auf dem Boden filmen, wie sie lach-heult, weil sie ihren zweiten Roman fertig geschrieben hat. „Du hast es geschafft“, sagt der sie Filmende, und ihr Gesicht ist schmerzverzerrt. In der Caption erklärt sie den Schmerz: Vor fünf Jahren schon habe sie die Idee zu dem Roman gehabt, vor fünf Minuten hätte sie das Skript endlich beendet. Und fünf Minuten später ist ihr Moment Marketing.

Gedanken zum Gegenwärtig*innen, Folge 7: … … Zucker, Puppe

3. bedroom, freeform, asmr-mikrofon

Die 2021 verstorbene Schriftstellerin Friederike Mayröcker machte es 2006 noch andersherum. Der Prozess ihres Schreibens war nicht Marketing, sondern Teil ihres fertigen, aber dennoch kunstvoll unfertig wirkenden Werks. In ihrem stream of (poetic) consciousness „Und ich schüttelte einen Liebling“ fließt immer wieder der Schreibprozess in das Geschriebene mit ein. Es gibt Zweifel und Titelsuche in Sätzen wie: „ich ertappe mich dabei, beinahe pausenlos an mein entstehendes Buch zu denken, jede Ablenkung unwillkommen, bin für die Erfahrungen der Welt verloren“.

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Der Werkentstehung im Werk widmet sich auch die britische Rapperin John Glacier auf ihrem unfassbaren Debütalbum SHILOH: LOST FOR WORDS. Sie kommentiert ihren stream of (poetic) consciousness mit selbstkritischen Lautäußerungen. Und benennt Songs nach den Umständen ihres Entstehens. (Am schönsten „A child was so sad so I made this in front of her to make her laugh“). Wie auch Billie Eilishs Bedroom-Pop HAPPIER THAN EVER enthält SHILOH neben perfekt produzierten Songs viele, die noch wie „in Bearbeitung“ wirken. Das Zulassen von Unfertigem erzeugt die Illusion, die mit Abstand am meisten gefragt ist dieser Tage: Intimität.

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Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 10/2021.