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Die 100 wichtigsten Frauen im Pop: Darum ist Madonna auf Platz 1


Ohne Madonna würden wir immer noch glauben, dass Frauen über 30 unsichtbar werden.

Musik kennt erst mal kein Geschlecht: Die angeschlagene Saite, die getretene Fußtrommel oder der Loop in der Audio-Software – alles komplett genderneutral. Schöner Gedanke, oder?

Doch über Ton und Beat hinaus spielt das aufgeladene Thema sehr wohl eine Rolle. Musik ist, wenn sie die Instrumente verlassen hat, immer auch Kontext. Musik bildet Realitäten ab und nimmt genauso auch Einfluss auf sie.

Dass Pop und Gesellschaft über die Dekaden diverser geworden sind, braucht man heute nieman- dem zu erzählen. Wer sich aber bei all der Bewegung hingegen gern mal im Bart kratzt und lieber noch mal umdreht, ist der traditionsbewusste Popkulturkanon. Unzählige Listen werden immer noch angeführt von Dylan und den Beatles – Radiohead gelten hier noch als junge Herausforderer. Auch dieser Blick mag für manchen einen Reiz besitzen, doch wenn es mal wieder auf das Argument rausläuft, es gäbe ja so wenig einflussreiche Musikerinnen, dann dimmen sich die Lichter.

Wir widmen uns im aktuellen MUSIKEXRESS daher all den einflussreichen Frauen im Musikbetrieb. So selbstverständlich das alles sein möge, so wertvoll sind doch die Impulse, die uns weibliche Acts zusätzlich zu ihren Hits noch obendrauf gegeben haben. Nur weiter so, we’ve only just begun.

Was wir brauchen, ist ein neuer Kanon der Popmusik

Das ist der erste Platz in unserem Blick auf Female Pop:

Madonna

Als Madonna Louise Ciccone 2016 bei den Billboard Women in Music Awards ihre Rede zum soeben gewonnenen Preis „Woman of the Year“ hielt, wirkte sie erstmal ein wenig verbittert. Sie haute direkt am Anfang diesen Satz raus: „Thank you for acknowledging my ability to continue my career for 34 years in the face of blatant sexism and misogyny and constant bullying and relentless abuse.“ Sie zählte dann auf, was sie in den vergangenen Jahrzehnten alles ertragen musste, Sexismus, Vergewaltigung, AIDS-Tode ihrer Freunde, Beschämungen von konservativen und progressiven Kräften und so weiter. Dann wurde die Rede noch ein bisschen lustiger, vor allem aber kämpferischer. Ein Thema war ihr besonders wichtig und am lautesten hallt bis heute dieser Satz nach: „I think the most controversial thing I have ever done is to stick around.“ Tatsächlich wurde Madonna schon früh, und zwar erschreckend früh, fürs Altern in der Öffentlichkeit beschämt. Das größte Problem für ihre Kritiker schien seit jeher zu sein: Die Alte ist ja immer noch da. Verstärkt wurden diese Angriffe während ihrer Ehen und dem Beginn ihrer Mutterschaft. Mit 40 hielten es viele Kritiker (vor allem männliche) dann anscheinend gar nicht mehr aus.

Man kann sich das vielleicht heute schwer vorstellen, aber vor 20 Jahren war es eine riesige Provokation, dass eine Frau über 40 wenig bekleidet über die Bühne tänzelte. Wir denken an Beyoncés „Renaissance“-Tour aus dem letzten Jahr – niemand würde es wagen, Miss Carter (42!) zu sagen, sie solle im Strickpulli zu Hause bleiben – man würde zu Recht mit tödlichem Blick von ihr bedacht und im Anschluss vom Beyhive restlos zermalmt werden. Auch sonst haben wir uns an den Anblick von Ü40-Popstars gewöhnt: Shakira, Jennifer Lopez, Kylie Minogue, Mariah Carey und sowieso Cher machen keine Anstalten, sich was drüberzuziehen und zu Folk oder Ähnlichem rüberzuwechseln. Irrerweise wären Anfang der Nuller wohl auch schon längst Lady Gaga, Taylor Swift und Ariana Grande ins Fadenkreuz der ageistischen Kritiker geraten – die ersten Sprüche dieser Art musste sich Madonna tatsächlich bereits mit Ende 20 anhören.

Madonna live in Berlin: Boss Babe, die keine Best-of-Show nötig hat

Dabei ging sie mit Skandalen wirklich nicht spärlich um. Ob sie durch ihre provokante Verwendung christlicher Symbole die katholische Kirche gegen sich aufbrachte, manche Feministinnen mit ihrer öffentlichen Nacktheit und ihrem Sexpositivismus verärgerte, ob sie alle schockierte, als sie sich auf Bühnen in den Schritt griff, Konservative vor ihr wegen ihrer Verbindungen zu Homosexuellen und Transpersonen warnten und schäumten, als sie über HIV aufklärte, ob sie ihre eigenen Fans zum Kopfschütteln brachte während ihrer Yoga- und Kabbala-Phase (wir werden nie das rote Armband vergessen), ob sie Männer verärgerte, weil sie zu selbstbestimmt mit ihrer Sexualität umging und sich ihrem Gaze verweigerte, sie zu dünn oder zu muskulös war, ob sie ohne Reue über ihre Abtreibung sprach, ihr Gesang hier und da mal schwach wirkte, ob sie Frauen küsste und vulgär und forsch daherredete – ihr schlimmstes Verbrechen schien stets gewesen zu sein, dass sie alterte und nicht verschwand. Den Höhepunkt hatte diese Chose, als sie 2005 im Video zu „Hung Up“ im pinkfarbenen Body und schwarzen Heels tanzte. Und das 47-jährig! Und obwohl sie vorher einen schweren Unfall hatte. Die Reaktionen schwankten diesmal noch deutlicher als zuvor zwischen Beschämung und Bewunderung. Madonna wurde mit der Zeit zur Kämpferin, optimierte sich selbst, wo es nur ging, wurde härter und stolzer, wurde zu einer Repräsentantin von Hustle Culture. Sie wollte es den Hatern verständlicherweise zeigen, ging und geht dafür aber bis heute immer wieder über die eigenen, körperlichen Grenzen. 2023 musste sie ihre „Celebration“-Tour wegen einer schweren bakteriellen Infektion verschieben, kurz darauf stand sie aber doch wieder auf unzähligen Bühnen.

Madonna will einfach nicht bescheiden werden, egal wie oft es von ihr eingefordert wird. Immer wieder drängt sie sich ins Rampenlicht, ob durch ihre berühmten Imagewechsel, ihre Zusammenarbeiten mit Designern (der verdammte Gaultier-Cone-Bra!), durch mutige Filmrollen („Evita“) oder ikonische Auftritte, wie bei den VMAs 2003, als sie Britney Spears und Christina Aguilera küsste. Sie blieb präsent – für manche schwer auszuhalten. Deshalb musste man sie dämonisieren. Als Hexe und Schlampe galt sie schon lange, als Vampirin wurde sie aber auch gern bezeichnet, man musste sie schließlich in den düstersten Farben malen und ihr alles möglichst schlecht auslegen. Ihre Kunst? Natürlich nur das Werk von Entdeckern und Produzenten. Ihre Stimme? Davon sollten wohl ihre Tanzkünste und die Stilwandel ablenken. Ihre Einflüsse? Geklaut und kulturell angeeignet. Dabei war Madonna immer ein Schwamm: Sie nahm ihre Umwelt wahr, verband Menschen, teilte ihre Plattform, war nie ein unsoziales Genie, das in seinem Studio vor sich hinwerkelte, sondern war lieber draußen, da wo Kultur stattfindet – und gab damit einsamen Underdogs Möglichkeiten, dabei zu sein. Ja, sie ist dabei auch zu weit gegangen, hat sich bedient und profitiert, ja, sie hat auch Kritik verdient. Aber wer schafft es schon, in 40 Jahren Karriere alles richtig zu machen? Bitch, she’s Madonna.

Es sind 40 Jahre, in denen Madonna angeblich schon locker 20-mal „vorbei“ gewesen ist. 40 Jahre, in denen ihr gesagt wurde, sie soll doch endlich verschwinden und Ruhe geben. 40 Jahre, in denen sie immer wieder bewiesen hat: Pop ist für die Ewigkeit. Pop ist was für jedes Alter. Pop ist mehr als ein Moment. Pop ist nicht nur für Sternchen, die wieder verglühen. Pop ist für ein ganzes Leben. Pop ist Madonna und Madonna ist Pop.

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Ohne sie (und ihre Gang) würden wir immer noch glauben, dass wir über 30 unsichtbar werden und zu Hause bleiben müssen. In den Clubs gäbe es in unserem Alter nur die creepy Typen, die eh nie tanzen, sondern nur glotzen. Stattdessen pinseln wir uns den Glitzer in die Augenfalten, entern die Tanzfläche, gefallen uns nur gegenseitig und knutschen links und rechts.

(Paula Irmschler)

Hier geht’s zu den vorherigen Teasern:

Bad Bunny, Rosalía, Karol G: Weshalb Reggaeton nicht zu unterschätzen ist

+++ Unser aktuelles Heft ist seit dem 09. Februar im Handel. Darin gibt es die komplette Lister der 100 wichtigsten Frauen im Pop. Hier teilen wir immer wieder Ausschnitte des Rankings. +++