Popkolumne, Folge 44

Jahresrückblick: Was wir 2019 gelernt haben (Popkolumne-Sonderedition)


Spoiler: Es geht um Billie Eilish, Greta Thunberg und die ewigen Generationskonflikte.

Kinder, schon wieder fast rum, das Jahr. Bevor alle ins Lebkuchenkoma fallen und mit Kai Pflaume im Privatfernsehen die „emotionalsten Momente” des Jahres Revue passieren lassen, habe ich meine nach allen Betriebsweihnachtsfeiern verbliebenen Hirnzellen reaktiviert, um darüber nachzudenken, was ich in diesem Jahr so gelernt habe. Bitteschön, nicht dafür.

Schlager gegen Links, Feine Sahne Fischfilet vs. AfD, #Grammysnotsowhite: Die Popwoche im Überblick

7 Dinge, die unsere Kolumnistin Julia Lorenz über das Popjahr 2019 gelernt hat

1. Keiner singt den Umwelt-Hit.

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Wenn sich selbst eine subversionsunverdächtige Musikerin wie Sarah Connor offen gegen Homophobie positioniert und die fleißigen Antifa-Basisarbeiter Feine Sahne Fischfilet zu den momentan gefragtesten deutschen Stadionbands zählen, kann man schon behaupten: Das klare politische Bekenntnis hat sich 2019 im Pop-Mainstream etabliert. Eins fällt dabei aber auf: Einen Song zur just erwachten jungen Klimabewegung, zu den Protesten von Fridays for Future oder Exctinction Rebellion, hat 2019 niemand geliefert – nicht in Deutschland, und nicht international. Klar, K.I.Z.s vier Jahre alter Song „Hurra, die Welt geht unter“ läuft naheliegenderweise oft auf Klimademos. Die britische Band The 1975 nahm sogar ein Stück mit Aktivistin Greta Thunberg auf – in dem sie aber nicht singt, sondern eine Rede hält. Einen Fatboy-Slim- wie auch einen Death-Metal-Remix ihrer „How dare you“-Rede vor der UN gab’s auch. Aber gut gemeinte Solidaritätsbekundungen wie der Song „The Kids Are Coming“ der australischen Songwriterin Tones & I haben noch keine Slogans produziert, die es mit der Beliebtheit von Klassikern wie „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ aufnehmen kann. Ob sich 2020 jemand erbarmt und den Hit zur Klimabewegung schreibt? Oder wollen wir den lieber gar nicht hören? Vielleicht ist das auch egal. Denn:

2. Die größten Popstars der Gegenwart machen eh keine Musik.

Ob Greta Thunberg, die Kapitänin Carola Rackete oder Luisa Neubauer, das deutsche Gesicht der „Fridays for Future“-Proteste, oder jüngst die zielgruppenwirksam twitternde Jung-Sozialdemokratin Lilly Blaudszun, deren Social-Media-Auftritt als Antidot gegen den Bedeutungsverlust der SPD gesehen wird: Es war das Jahr der jungen Frauen mit sozialem Gewissen. Und die nehmen eine Rolle ein, die sonst oft Popstars vorbehalten war: die der identitätsstiftenden Heilsbringerin, der Projektionsflächen für Zukunftsträume. Und leider oft auch die der Blitzableiter, schaut man sich an, wie viel unverhohlener Hass und Spott allen von ihnen entgegenschlägt.

3. Die jüngere Generation hat übernommen – und die ältere kapiert nichts.

Es muss für Billie Eilishs Fans der ersten Stunde ein wenig rührend ausgesehen haben, wie aufgekratzt sich die Presse auf die (noch) 17-Jährige stürzte, als im März ihr Debütalbum WHEN WE ALL ALL ASLEEP, WHERE DO WE GO erschien. Denn ein Netz-Phänomen war die US-Sängerin ja schon seit einigen Jahren – nur eines, das an vielen Journalist*innen vorbeigegangen zu sein schien (ja, auch an mir). Denen konnte es, als das Phänomen Eilish schließlich auf ihrem Radar erschien, nicht schnell genug damit gehen, sie zur „Stimme einer neuen Generation“ auszurufen – was auch immer das bedeuten mag. Man merkte vielen Kommentatoren die Ratlosigkeit im Umgang mit dieser jungen Sängerin an, deren verwisperter, düsterer ASMR-Pop so ziemlich das Gegenteil von dem war, was lange als „Teen Pop“ gegolten hatte, deren bunte, sackartige Outfits man – wenn überhaupt – eher mit dem Look der jungen Missy Elliot als mit Britney Spears’ Sexy-Hexi-Outfits vergleichen kann. In Gestalt von Eilish hat eine Generation die Pop-Bühne betreten, für die andere Gewissheiten herrschen, die vordigitale Zeiten nicht mehr kennt – und alte Rockgrößen wie Van Halen ebenso wenig, wie sie kürzlich im Interview mit Jimmy Kimmel zugab. Was ihr wiederum ordentlich Spott aus der Generation ihres Vaters einbrachte. Das Meme, das geflügelte Wort zum schwelenden Generationenkonflikt, der sich am Beispiel Eilishs zeigte, gab’s 2019 natürlich auch: OK, Boomer.

4. Auch Genres, die man als rückständig abgeschrieben hatte, können einen überraschen.

Hätte man der Welt vor zehn Jahren gesagt, dass sich der alte Gaul Country ausgerechnet in einer Zeit, in der ein breitbeiniger Höhlenmensch im Weißen Haus regiert, noch einmal zum Sprint in die Zukunft aufmachen würde – es hätte absurd geklungen. Während die Dixie Chicks noch erbittert von reaktionären Country-Puristen bekriegt wurden, als sie sich einst gegen Präsident Bush und seinen „Krieg gegen den Terror“ aussprachen, ist eine nonkonforme Countrysängerin wie die Grammy-Gewinnerin Kacey Musgraves heute nicht mehr allein: Eine junge Country-Generation wider dem Konservatismus und Patriotismus hat sich auf den Weg gemacht – und hat mit dem queeren, schwarzen Country-Rap-Grenzgänger Lil Nas X seit diesem Jahr eine Art Superstar, der mit so ziemlich allen Erwartungen an einen Countrymusiker bricht. Auch der gute, olle Indierock, dem ausdauernde Schwarzseher ja seit gefühlten 300 Jahren das langsame Siechtum, die Verzwergung zur irrelevanten Nostalgikermusik prophezeien, schwang sich 2019 in neue Höhen auf. Die Australierin Stella Donnelly und Ilgen-Nur aus Deutschland nahmen einige der besten 90er-Alternative-Platten seit dem Ende der Alternative-lastigen 90er auf. Und auch Black Midi, die britische Noise-Sensation des Jahres, bedient sich für ihren unerbittlich sperrigen, stetig neue Haken schlagenden Sound zwar bei einem halben Dutzend Punkbands (wie etwa den Minutemen) – wahnsinnig gegenwärtig klang ihr Debütalbum SCHLAGENHEIM trotzdem.

5. Im Pop in Würde zu altern, ist schwierig.

Über den mosernden Mozzer, das Wutbürger-Rumpelstilzchen aus Brexit Country, muss man nach Jahren der Irrfahrten gen rechts nicht mehr viele Worte verlieren. Unangenehmer Höhepunkt von Morrisseys diesjähriger Tour de force der Peinlichkeiten war ein Auftritt im „Fuck the Guardian“-Shirt, den viele enttäuschte Fans (und Guardian-Leser) in den sozialen Medien trocken mit „Fuck Morrissey“ kommentierten. Dass alternde Popgrößen aber nicht nur peinlich sind, wenn sie mit dem Kopf im Gestern stecken, sondern auch, wenn sie sich stetig weiterentwickeln und am Puls der Zeit bleiben wollen, bewies in diesem Jahr Madonna – zumindest in den Augen vieler hämischer Kommentatoren, die ihren (zugegeben: nicht wirklich geglückten) Auftritt beim Eurovision Song Contest zum Anlass nahmen, allerlei altersdiskriminierenden und sexistischen Müll vorm Schloss der Queen of Pop abzuladen. Auch wenn man Madonnas neues Album MADAME X aus besten Gründen noch so doof findet: Wie gnadenlos die (Pop-)Welt mit alternden Frauen umgeht, hat sich leider auch 2019 wieder gezeigt.

6. Parität bringt’s.

Schon klar. Das ewige Rumzählen nervt, sogar mich selbst. Man kommt sich ja längst vor wie eine gesprungene Schallplatte, wenn man immer wieder den geringen Frauen- (und Enby-)Anteil in Talkshows, auf Panels und Festivals kritisiert. Aber es ist nun einmal so: Wie viel spannender, innovativer, einfach toller Festivals werden, wenn man beim Line-up auf Geschlechterparität achtet, hat in diesem Jahr im Großen zum Beispiel das Primavera Sound in Spanien bewiesen – und im Kleinen das Festival Pop-Kultur in der Berliner Kulturbrauerei. Letzteres hat im Übrigen, wie auch das Reeperbahn-Festival in Hamburg, die freiwillige Selbstverpflichtung der Initiative Keychange unterschrieben. Die setzt sich seit ihrer Gründung vor gut zwei Jahren dafür ein, dass bis 2022 Geschlechtergerechtigkeit auf Festivalbühnen herrscht. Dass Keychange von der EU-Kommission mit 1,4 Millionen Euro gefördert wird: eine der besseren Nachrichten des Popjahres.

7. Verhasster Kritikerliebling des Jahres: The National – „I Am Easy To Find“

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Weil es ja irgendwann doch mal raus muss, kapere ich (in abgewandelter Jahresrückblicksversion) mal wieder Kollege Volkmanns Rubrik „Verhasster Klassiker“ – um der Welt endlich die Frage zu stellen: Was, in Dreigottesnamen, ist der Deal mit The National? Ihr neues, vielerorts hochgelobtes Album I AM EASY TO FIND hat mal wieder „großartige Dynamiken“, „interessante Texturen“ und „vielschichtige Kompositionen“ – was übersetzt bedeutet: brüllend öder Streberschönklang, der dem irrigen Gedanken aufsitzt, wohltemperierter Jungsindie verwandle sich in Avantgarde, wenn man nur genug Gewirble, Gefiepe und Gestreiche um seine mediokren Melodien arrangiert. Musik wie ein Kunstheini, der dir auf einer Party seine schalen Gedanken zu Zeit und Welt ins Ohr flüstert – bis man „mal kurz auf Toilette“ geht und nie zurückkommt.

Warum der „Tatort“ aus Münster gerne der „Juice“ folgen darf: Die Popwoche im Überblick

Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte von Julia Lorenz und Linus Volkmann im Überblick.